Dunkler Wahn
Gegenverkehr.
»Warum überholst du nicht, wenn du’s so eilig hast?«
Ärgerlich tippte sie das Bremspedal an, woraufhin ihr Hintermann den Abstand vergrößerte. Doch gleich darauf fuhr er wieder auf. Diesmal so dicht, dass sie schon befürchtete, er werde sie rammen.
Entnervt seufzend betätigte sie den rechten Blinker und signalisierte ihm, sie zu überholen. Doch er blieb weiterhin
hinter ihr, und seine Scheinwerfer tauchten ihre Fahrerkabine in taghelles Licht.
»Arschloch, dämliches«, schimpfte Julia und kippte ihren Rückspiegel. Es war schon schwer genug, etwas auf der regennassen Fahrbahn zu erkennen – vor allem, da ihre Wischerblätter auch schon bessere Tage gesehen hatten –, und der blendend helle Rückspiegel schmerzte in ihren Augen.
Wieder ließ sich der Wagen hinter ihr zurückfallen, nur um sofort wieder aufzufahren.
»Herrgott, du Spinner, fahr doch endlich vorbei!«
Erneut setzte sie den Blinker, und diesmal schien der Fahrer hinter ihr verstanden zu haben. Sie hörte das Aufheulen seines Motors, dann scherte er ruckartig aus und zog an ihr vorbei.
Der Regen war zu stark, und es war zu dunkel, um zu erkennen, wer den Wagen fuhr. Da es sich ebenfalls um einen älteren Kleinwagen handelte, schätzte Julia, dass es ein jugendlicher Diskoheimkehrer war. Sicherlich saß er nicht allein im Auto, und wahrscheinlich würden sich seine Mitfahrer in diesem Moment vor Lachen ausschütten.
Haha, seht mal die Tussi. Die hat sich ins Hemd gemacht!
Na und? , dachte sie. Sollen sie doch lachen, ich werde mir meine gute Stimmung nicht kaputt machen lassen. Dafür funktioniert die Reanimation im Augenblick viel zu gut.
Der Kleinwagen scherte vor ihr ein und gab Gas. In einiger Entfernung leuchteten die roten Lichter einer Ampel, doch die Jungs – vielleicht auch Mädels – in dem Auto schien dies nicht zu beeindrucken. Sie schossen über die verlassene Kreuzung zur Autobahnauffahrt und wurden kurz darauf von der regennassen Dunkelheit verschluckt.
Julia bremste an der roten Ampel und seufzte kopfschüttelnd.
»Spinner. Irgendwann sehen wir uns in der Notaufnahme wieder. Und dann ist das Geheule groß. Obwohl, ich werde hier in keiner Notaufnahme mehr arbeiten.«
Als die Lichter auf Grün wechselten, fuhr sie an, beschleunigte und dachte an die Eiscreme auf dem Beifahrersitz.
Nur zwei, drei Löffel? Nein. Eher zehn oder zwölf. Sie hatte jetzt richtigen Heißhunger darauf. Ja, vielleicht würde sie die ganze Packung leeressen. Wer konnte schon sagen, wann und ob sie in Namibia Eiscreme bekommen würde? Nicht, dass das von Bedeutung für sie wäre, aber lieber stillte sie ihren süßen Heißhunger, solange es noch möglich war, anstatt …
Zwei rote Reflektoren leuchteten vor ihr auf. Julia schrie. Zu spät erkannte sie den Kleinwagen, der mit abgeschaltetem Licht auf dem Mittelstreifen dahinschlich.
Die Zeit reichte nicht einmal, um zu bremsen. Sie riss das Steuer nach rechts, schoss an dem dunklen Auto vorbei und durchbrach die Leitplanke.
Dann drehte sich die Welt. Oben wurde zu unten, unten zu oben.
Der Aufschlag folgte hart und schmerzhaft.
35
Das Telefon riss Jan aus dem Schlaf. Er schreckte hoch und fand sich an seinem Küchentisch wieder. Vor ihm türmte sich ein Stapel aus Adressbüchern, Almanachen längst vergangener Schulzeiten, Fotoalben und mehreren Boxen mit all den alten Fotos, die ihren Weg in die Alben
noch nicht gefunden hatten. Jan hatte mit dem Kopf auf einem großen Notizblock gelegen, und nun spürte er das Kribbeln des Abdrucks, den die Spiralbindung an seinem linken Ohr hinterlassen hatte.
Der Block war mit Namen vollgeschrieben. Namen, die Jan nach und nach wieder durchgestrichen hatte. Den Kugelschreiber hielt er noch immer in der Hand.
Die ganze Nacht über hatte er sich den Kopf zermartert, wer die unbekannte Frau sein könnte. Also hatte er die Namen sämtlicher Frauen notiert, die ihm eingefallen waren. Jedes weibliche Wesen, das jemals in irgendeiner Art eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte – Bekannte, Nachbarinnen, ehemalige Mitschülerinnen, Kommilitoninnen, Kolleginnen, Patientinnen und natürlich auch seine ehemaligen Beziehungen. Letztere waren nicht besonders viele gewesen, und keiner von ihnen hätte er ein derart wahnhaftes Verhalten zugetraut, doch er hatte bei seinem Brainstorming niemanden auslassen wollen. Zunächst einmal kam jede infrage – und doch auch wieder nicht. Denn keiner der Namen auf dieser Liste war in der Lage, auch nur
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