Dunkler Wahn
Freunden, Familie?«
Die Antwort war ein schnelles und entschlossenes »Nein«. Dann fügte sie mit kalter Stimme hinzu: »Es gibt niemanden, niemanden, der wichtig wäre. Nur du bist mir wichtig.«
Jan fuhr sich durchs Haar und überlegte. Er war auf dieses Gespräch nicht vorbereitet. In der Klinik hätte er sich auf ein Patientengespräch zuerst eingestellt, er hätte sich vorher über die Person informiert. Nun aber hatte sie ihn überrascht – wieder einmal –, und hinzu kamen seine Kopfschmerzen, die sich jetzt nach dem ersten Schrecken wieder einstellten.
Professionalität, Herr Doktor , gemahnte er sich. Versuch, so viel wie möglich über sie in Erfahrung zu bringen. Das ist deine Chance .
»Deshalb hast du mir auch die Bilder geschickt?«, fragte er. »Du willst, dass ich dich verstehe.«
»Haben sie dir gefallen?«
»Sie waren«, Jan suchte nach dem richtigen Wort, »ausdrucksstark. Voller Symbole.«
»Ich habe gewusst, dass sie dir gefallen werden«, entgegnete sie fröhlich. »Ich habe dir meine Träume gemalt.
Es sind schlimme Träume, die man nicht immer von der Wirklichkeit unterscheiden kann, so echt sind sie. Aber am Ende kommst jedes Mal du und rettest mich. Jedes Mal. Du bist mein Held. Du kannst es mit ihnen allen aufnehmen. Ach, Jan, was wäre ich nur ohne deine Liebe?«
Allmählich bekam Jan ein Bild von dieser Frau. Kein äußerliches, eher ein Profil. Eine vorläufige Diagnose. Wenn er jetzt zu dem Durcheinander auf dem Küchentisch hinübersah, musste er beinahe lachen. Wie hatte er nur annehmen können, dass er sie tatsächlich kannte? Höchstwahrscheinlich waren sie beide sich noch nie zuvor begegnet, auch wenn Jana vom Gegenteil überzeugt sein mochte.
Du hättest auf dein Bauchgefühl hören sollen, mein Bester.
Jana – in Ermangelung des wirklichen Namens würde er sie vorerst so nennen müssen – litt vermutlich unter einer halluzinatorisch-schizophrenen Störung. Das wäre eine Erklärung für ihre wirklichkeitsnahen Träume, bei denen es sich vermutlich um Wahnbilder handelte. Wahnbilder, in denen er ein Riese war und sie wie ein kleines Kind auf der Schulter trug, während um sie herum Kühe mit abgeschlagenen Köpfen weideten.
Jana war gestört, aber noch wichtiger war, dass sie sich selbst darüber im Klaren sein musste. Vielleicht nicht völlig, aber zumindest ein Teil von ihr wusste es. Deshalb wurde Jan zum Retter in ihren Wahnfantasien – er, der Psychiater, auf den sie sicherlich durch Carlas Buch oder die Presseberichte über den Psychiatrieskandal aufmerksam geworden war. Eine dieser Schlagzeilen hatte ihn in typischer Boulevardmanier als »heldenhaften Psychiater« bezeichnet, und Jana musste dies wörtlich genommen haben.
Hinzu kam jedoch, dass sie ihre Hoffnung auf Jans professionelle Hilfe mit Liebe verwechselte. In ihrem Wahnkonstrukt
musste er mittlerweile eine derart idealisierte Position eingenommen haben, dass daraus ein Liebeswahn entstanden war.
Eine schizophrene Erotomanin , dachte Jan. Nein, das machte die Sache durchaus nicht einfacher. Erst recht nicht, wenn sie tatsächlich einen Mord begangen hatte und sich dessen bewusst war.
»Bist du noch da?« Nun klang ihre Stimme wie die eines schüchternen kleinen Mädchens, das fürchtete, es habe etwas falsch gemacht.
»Jana, ich würde dir gerne helfen. Würdest du das zulassen ?«
»Nein, Jan«, entgegnete sie, und das Mädchen klang sofort wieder wie eine Frau. Als habe man einen Schalter bei ihr umgelegt. »Kein Konjunktiv. Du wirst mir helfen. Das hast du mir versprochen . Du hast mir den Schlüssel zu meinem Gefängnis gezeigt, weißt du das denn nicht mehr?«
Kein Konjunktiv , echote es in Jans Gedanken. Wer würde sich so ausdrücken? Jemand, der über eine gewisse Bildung verfügte.
Natürlich hatte Jan keine Ahnung, wovon diese Frau sprach. Was immer sie auch mit diesem Schlüssel meinte, es musste mit ihren Wahnvorstellungen zu tun haben. Dennoch ließ er sich darauf ein. Keinesfalls durfte er riskieren, dass sie auflegte.
»Selbstverständlich erinnere ich mich«, versicherte er ihr. »Aber ich kann dir nur helfen, wenn du zu mir kommst. Wenn ich den Schlüssel habe, muss ich dich sehen, damit wir gemeinsam den Weg aus deinem Gefängnis finden.«
»Du willst, dass ich zu dir komme?«
»Ja.«
Sie schwieg und schien zu überlegen. Jan lauschte in die
Stille am anderen Ende der Leitung und versuchte angestrengt, ein Geräusch auszumachen, das Aufschluss gab über ihren
Weitere Kostenlose Bücher