Dunkler Wahn
häufiger getan. Manchmal allein, meistens aber mit ihren damaligen Freundinnen, war sie spätabends oder frühmorgens losgezogen, um sich an einer Tankstelle, die rund um die Uhr geöffnet hatte, mit Eiscreme, Chips, einer Flasche Coke und hin und wieder mit Wein oder etwas Hochprozentigem einzudecken. Es war eine unbeschwerte Zeit gewesen, in der sie viel Spaß gehabt hatte.
Doch dann war sie Rolf begegnet, und nach ihm hatte es noch viele weitere Typen seiner Art gegeben. Jeder von ihnen gut aussehend, einfühlsam und charmant – bis sie irgendwann das bekommen hatten, was sie von ihr wollten. Danach hatten sie sich zu dem zurückverwandelt, was sie wirklich gewesen waren: verheiratete Männer, die ihres soliden Ehealltags überdrüssig waren – eines Alltags, um den Julia sie beneidete – und auf der Suche waren nach einem kleinen Abenteuer. Denn mehr als ein Abenteuer war sie für keinen von ihnen gewesen.
Jedes Mal aufs Neue hatte sie sich wie eine Prinzessin gefühlt gehabt, die ihren Prinzen küsste, nur damit sich dieser daraufhin als Frosch entpuppte, während sie weiterhin auf die große Liebe hoffte. Und immer wieder war sie auf denselben Typ Mann hereingefallen. Sie hätte sie durchnummerieren können: Rolf 1, gefolgt von Rolf 2 und 3 – bis der x-te Rolf sie schließlich geheiratet und nach dem Verlust des Kindes – sie hätte Laura heißen sollen, wäre sie nicht drei Wochen vor der Geburt gestorben – wieder verlassen hatte.
Während der Selbsterfahrungsseminare, die Bestandteil ihrer psychiatrischen Facharztausbildung gewesen waren, hatte sie versucht, den Grund für das pathologische Muster ihrer Partnerwahl zu erkennen und den Teufelskreis zu durchbrechen. Bis zu einem bestimmten Punkt war ihr das auch gelungen – hallo, Papa, vielen Dank, dass du mich durch mein Leben begleitest, obwohl du längst schon tot bist –, aber dann war ihr Dozent zu einem der weiteren Rolfs auf ihrer Liste geworden. Es war wie ein Fluch gewesen.
Doch nun würde sie es schaffen. Sie würde freikommen. Franco würde der letzte Rolf gewesen sein, und insgeheim dankte sie Jan, dass er nicht auf ihre Liste gewollt hatte.
Vielleicht war ihr Leidensdruck bisher noch nicht groß genug gewesen, um wirklich etwas zu ändern. Aber jetzt war das Maß voll. Namibia war eine Chance, die sie nutzen würde, und mit der Literpackung Haselnuss-Mandel-Schokolade – ohne Rum, denn auch den Alkohol würde sie künftig meiden, und sei es nur in einer Eiscremepackung – hatte sie sich selbst ein erstes Zeichen gesetzt.
Schon verrückt , dachte sie und warf einen Seitenblick auf die Eispackung, die neben ihr auf dem Beifahrersitz schaukelte, Schokoladen-Nuss-Eis wird zu meinem Symbol für eine bessere Zukunft .
Sie lachte. Die Idee gefiel ihr immer besser. Sie war spontan darauf gekommen, während sie nach dem Vorfall mit Jan ein endlos langes Schaumbad genommen hatte. Anfangs war ihr Jan noch eine Weile durch den Kopf gegangen, doch dann hatte sie es endlich erfolgreich geschafft, ihn dorthin zu schicken, wo er hingehörte. Zu seiner Carla.
Später hatte irgendjemand mehrmals an ihrer Apartmenttür geläutet, doch sie hatte sich nicht gerührt. Sie hatte in ihrer Badewanne gelegen, immer wieder heißes
Wasser nachlaufen lassen, sobald es ihr zu kühl wurde, und an die Eiscreme gedacht.
Wahrscheinlich würde sie nicht mehr als zwei oder drei Löffel von dem süßen Zeug herunterbekommen, aber darum ging es schließlich nicht. Es ging um die lebensfrohe und spontane junge Frau, die damit reanimiert werden sollte.
Erste Zuckungen auf dem EEG sind bereits erkennbar , dachte sie und lachte wieder. Morgen früh würde sie ihren alten Renault Clio seinem neuen Besitzer aushändigen, ihre Sachen zusammenpacken, den unnötigen Rest davon entsorgen, und die Ausschläge auf dem EEG-Monitor würden zunehmen, gleichmäßiger werden, und dann …
»He!«
Grelles Scheinwerferlicht im Rückspiegel blendete sie. Julia fuhr dem Wetter angemessen. Der Regen erschwerte ihr die Sicht, und mehr als achtzig Stundenkilometer wären ein Wagnis gewesen, aber der Fahrer hinter ihr schien es eilig zu haben. Er fuhr derart dicht auf, dass man hätte glauben können, seine Scheinwerfer seien auf ihrer Heckstoßstange montiert.
»Halt Abstand, du Idiot!«, maulte sie dem Rückspiegel zu. »Wohl noch nie was von Aquaplaning gehört, was?«
Die Schnellstraße nach Fahlenberg war wie immer um diese Zeit so gut wie leer. Weit und breit gab es keinen
Weitere Kostenlose Bücher