Dunkler Winter
Schwester Winterridge war von rückwärts zu mir gekommen. Ich nickte und bemühte mich, so streng und kriegerisch zu erscheinen, wie ich konnte.
Die Übung wurde geleitet von Priorin Merceda, flankiert von einer Fahnenträgerin und einer Hornistin. Die Priorin schien eine Menge von beweglicher Gefechtsführung zu verstehen und meine Achtung vor ihr wuchs. Ich hatte erwartet, dass sie gut sein würden. Wenn Schwester Winterridge als Beispiel dienen konnte, war daran nicht zu zwei feln. Aber dies übertraf meine Erwartungen.
Auf freiem Feld und bei vergleichbarer Gefechtsstärke würden Nathans Veteranen sich wahrscheinlich behaupten. Von den üblichen halb ausgebildeten Milizen wahr scheinlich keine. Die Wachsoldaten von Tenabra, die Sil vus und ich in unseren besseren Tagen ausgebildet hatten, würden nach meiner professionellen Schätzung gerade so lange ausgehalten haben, um sich in die Hosen zu ma chen.
Natürlich konnte nicht von gleichen Kopfstärken ausgegangen werden. Wie viele Schwestern standen für den Kampfeinsatz zur Verfügung? Fünfhundert, vielleicht? Das entsprach einem durchschnittlichen Regiment. Fürst Nathan verfügte über fünfzehn Regimenter, dazu über viertausend Reiter und dreitausend Bogenschützen. In Friedenszeiten. Im Krieg konnte er die doppelte oder dreifache Zahl ins Feld schicken. Sogar noch mehr, wenn er es wirklich ernst meinte. Dazu ein Korps Pioniere. Und die Garde.
Aber etwas wie dies hatte ich noch nicht gesehen… Oder doch? Schließlich war ich in Hoppelinmoor dabei gewesen, nicht wahr? Hatte die Schwertjungfrauen dort im Kampf gesehen. Warum kam mir dies neu vor?
Ich kniff die Augen zusammen und blickte sechs Jahre zurück. Ja, ich erinnerte mich, wie sie vorgegangen wa ren. Tapfer und diszipliniert, aber… nicht so. Sie hatten in einer festen Schlachtreihe gekämpft und ihre Stangenäxte wie Dreschflegel auf und nieder geschwungen, während sie im langsamen Schritt vorgerückt waren. Lücken in der Schlachtreihe waren von rückwärts aufgefüllt worden, wie es bei jeder disziplinierten Truppe gemacht wurde. Sie hatten gekämpft und gelitten und trotz aller Verluste durch Tapferkeit und hohe Moral bis zum Sieg durchge halten. Hoppelinmoor war eine richtige Schlacht gewesen, blutig und voll unvorhergesehener Wendungen, die beide Seiten abwechselnd an den Rand der Katastrophe gebracht hatten. Aber sie hatten nicht wie in dieser Übung gekämpft. Ich kehrte in die Gegenwart zurück und beobachtete die fließende Beweglichkeit ihrer Manö ver, die vollkommen abgestimmte Schnelligkeit aller Bewegungen, die im Laufschritt ausgeführt wurden. Nun verstand ich, warum sie beim Kettenpanzer geblieben waren, während alle anderen zu Rüstungen mit Helm visier und Harnisch übergingen.
Dann wendeten sie sich paarweise individuellen Waf fenübungen zu. Ich betrachtete ihre ritualisierten Zwei kämpfe und begann an meiner Überzeugung zu zwei feln, dass Schwert und Schild einem Bihänder meistens überlegen sind. Diese Kämpferinnen kannten Kniffe, von denen ich noch nicht gehört hatte und mit denen ich am eigenen Leibe nicht Bekanntschaft zu machen wünschte.
»Wo haben sie dies gelernt?«, fragte ich, ohne meine Bewunderung zu verbergen.
Schwester Winterridge lächelte. Ich konnte es aus ihrer kühlen Stimme heraus hören. »Priorin Merceda. Sie kam vom Hoppelinmoor zurück und hatte erkannt, dass wir uns ändern mussten. Sie veränderte uns.«
Ich beobachtete die Übungen. Merceda und ihr Stab gingen langsam durch die Reihen, korrigierten hier eine Parade, dort die Beinarbeit.
Man erreicht einen so hohen Ausbildungsstand nicht ohne ständige Übung. Aber dies erforderte noch mehr. Um diesen Standard zu erreichen, war eine wilde, zielstrebige Entschlossenheit erforderlich, die naturgegebene Unterlegenheit an Körperkraft und Ausdauer im Kampf durch vollkommene Disziplin, Körperbeherr schung und überlegene Kampftechnik auszugleichen und die Besten zu sein, die es je gegeben hatte, eine Wei gerung, Kompromisse einzugehen, und eine Hingabe jenseits dessen, was einer Truppe gewöhnlich abverlangt werden konnte. Was Priorin Merceda mit der Erarbeitung und Einführung dieser Ausbildung geleistet hatte, zeugte von militärischem Genie, und ich verstand jetzt besser als zuvor, was ich sah.
Am folgenden Tag brachen wir planmäßig auf. Es war kalt, und die Heilerin machte sich um Huberts Bahre zu schaffen, um sicherzugehen, dass er gegen den scharfen Wind geschützt war.
Raol
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