Dunkler Winter
mitteilsamer. Sie wandte sich im Sat tel um.
»Die Stadt nahm ihren Anfang als Siedlung für die Erbauer der Festung«, sagte sie. »Und sie stellt noch immer die Arbeitskräfte zur Verfügung, die zur Erhaltung und Instandsetzung benötigt werden. Der Tanana – das ist der Fluss im Norden, von uns auch Strom der Göttin ge nannt – mündet dort in den Westlichen Ozean, und in der Stadt Ys gibt es eine Brücke. Man kann den Fluss dort überqueren oder einen Umweg von zehn Meilen stromauf zum nächsten Übergang machen.«
»Ein naturgegebener Ort für eine Siedlung.«
»Ja. Allerdings gab es dort nichts, bevor der Orden zu bauen begann. Die Flussmündung erweitert sich zu einer Bucht und Füßen der Festung liegt der Hafen.«
»Aber es gibt wenig Handel«, fügte Schwester Winter ridge hinzu. »Mit wem sollte man handeln? Drüben in Ctersi ist nur das Dunkel.«
Mit wem? Wenn Schwester Winterridge ihre eigene Heilkundige gefragt hätte, würde sie vielleicht mehr erfahren haben, als sie wissen wollte. Merceda lächelte mild. Vielleicht, dachte ich bei mir, wussten die Leiterin nen des Ordens mehr, als sie sagten.
»Also gibt es einen Landeplatz für das Dunkel, wenn es mit seiner Flotte vor der Küste aufkreuzt?«, fragte ich.
Mercedas Lächeln verstärkte sich ein wenig. »Schwerlich. Die Flussmündung ist durch eine Bronzekette ge sperrt, deren Glieder Schenkeldicke haben, und der gesamte Hafen mit den Ankerplätzen befindet sich im Wirkungsbereich der Steinschleudern auf den Mau ern der Festung. Jede Flotte, die dort einzudringen such te, würde versenkt und in Brand gesetzt. Nein, sie werden außerhalb der Mündungsbucht landen und ihr Heer über den offenen Strand versorgen müssen. Denn unser Hafen ist auf hundert Meilen der einzige sturm sichere Ankerplatz an dieser Küste. Wenn die Win terstürme einsetzen, werden die Belagerer abgeschnit ten sein.«
»Dann werden sie sich aus dem Land versorgen müssen.«
»Das wird ihnen schwer fallen. Alle Erntevorräte wer den innerhalb der Festungsmauern eingelagert.«
»Und was wird aus der Stadt?«
»Was soll aus ihr werden?«, versetzte Merceda. Ihr Ton war kühler als kühl.
»Werden Sie die Stadt aufgeben?«, drängte ich.
Sie runzelte die Brauen. »Sie kann nicht verteidigt werden«, erklärte sie mit einer Bestimmtheit, die ich nicht in Frage stellen konnte.
»Ein Versuch, die Stadt zu verteidigen, würde das Dunkel nur mit Körpern versorgen, die es als Rekruten verwenden könnte«, fügte Schwester Winterridge hinzu. »Also evakuieren wir die Bewohner, ziehen sie in die Vor berge zurück, wo wir Versorgungsdepots eingerichtet haben. Das Dunkel kann nicht das ganze Land besetzen und zugleich Ys belagern.«
»Es wird hart für die Leute sein, ihre Häuser zu verlas sen, noch dazu im Winter.«
»Härter, als Sie glauben. Wir brennen die Stadt nieder und reißen ein, was danach noch steht. Das ist der Rauch, den Sie sehen.«
Ich starrte über die Ebene hinaus. Ihr Gesicht wirkte jetzt verschlossen. Die blaugrünen Augen wie Eis. Die Züge der Priorin hatten sich ebenfalls verhärtet und schienen unergründlich.
Nach einer kurzen Pause fasste sie mich ins Auge und fragte herausfordernd: »Wäre es Ihnen lieber, wenn die Leute Sklaven des Dunkels würden? Oder würden sie besser dabei fahren?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Der einzige Weg, unserem Eid treu zu bleiben und die Leute zu verteidigen, ist, die Festung zu halten.«
Schwester Winterridge sah mich tadelnd an. »Indem wir die Festung halten, verteidigen wir auch die Städte am Fluss.«
Ich blieb freundlich. »Und die Festung beherrscht auch die Meerenge?«
»Nicht vollständig«, antwortete die Priorin. »Bei Nacht könnten Schiffe durchschlüpfen, oder indem sie dicht unter der südlichen Küste fahren. Aber solch eine Flot tille würde ohne Nachschub sein, weil wir im Inne ren Hafen ein Geschwader leichter Galeeren unterhalten. Wir können das Dunkel nicht auf See bezwingen, aber wir können die Meerenge jederzeit blockieren, wenn ihre Flotte nicht anwesend ist. Und es wird obendrein Winter sein. Das Dunkel kann Schiffe nicht längere Zeit auf hoher See erhalten. Früher oder später wird es einen schweren Sturm geben und wir halten den einzigen si cheren Hafen.«
Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. Von der Meer enge bis zum nächsten Hafen an der Nordküste des Bin nenmeeres, Wydemouth, waren es mehr als hundert Meilen Luftlinie. An der Südküste des Binnenmeeres gab es nur
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