Dunkler Zwilling
doch, dein Opa hieß Friedhelm. Was hätte der sich gefreut, wenn er dich noch hätte kennenlernen dürfen, aber leider war er im Jahr zuvor gestorben.«
Max verzog grübelnd das Gesicht und tat so, als lese er noch einmal in dem Zeitungsartikel. Die Erwachsenen beobachteten ihn dabei mit stummer Anspannung. Dann stellte er eine für sie völlig unerwartete Frage: »Gab es damals noch irgendwo so ein Findelkind?«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Sonja.
»Ich habe doch gerade was gefragt, wieso bekomme ich schon wieder nur eine Frage als Antwort?«, brauste Max auf.
Andreas hob die Stimme: »Max, ich verstehe deinen Frust. Glaub mir, ich verstehe das wirklich, aber trotzdem musst du deine Mutter nicht so anfahren. Das geht nicht!«
»Sie ist nicht meine Mutter, sie heißt Sonja«, entgegnete Max barsch.
Sonja schossen wieder die Tränen in die Augen. Andreas schüttelte stumm den Kopf und schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Garten hinaus.
»Max, du versündigst dich«, sagte die Großmutter leise.
Max schnaubte. »Ach ja, ich versündige mich? Dein Standardspruch! Dann geh doch in die Kirche und erzähl es deinem lieben Gott, aber vergiss nicht, ihm zu sagen, dass ich hier in diesem Haus jahrelang verarscht worden bin!«
Andreas erhob sich und knallte die Mappe auf den Esstisch, sodass alle im Raum zusammenfuhren und ihn erschreckt ansahen. »Jetzt reicht’s, Maximillian. Wenn das deine Antwort darauf ist, dass wir dir jahrelang ein Elternhaus geboten haben, in dem du dich bis vor Kurzem äußerst wohlgefühlt hast, ist das schlicht und einfach nicht fair! Wir haben uns um dich genauso bemüht, wie das leibliche Eltern tun, wir haben dich ernährt, gekleidet, erzogen. Wir haben uns die Nächte um die Ohren geschlagen, wenn du nicht schlafen konntest. Wir haben dich gepflegt, wenn du krank warst und uns gekümmert, wenn du Sorgen hattest. Das war und ist für uns völlig selbstverständlich, und zwar einzig und allein deshalb, weil wir dich lieben wie einen eigenen Sohn, auch wenn du das im Moment nicht glauben magst. Ja, es gibt irgendwo auf dieser Welt deine leiblichen Eltern, deine echten Eltern, wie du es vorhin nanntest. Aber diese Eltern wollten dich nicht. Sie wollten oder konnten das alles, was wir getan haben, nicht auf sich nehmen. Ja, wir sind Ersatzeltern für dich, aber dadurch sind wir nicht weniger wert.« Bei den letzten Worten bebte Andreas’ Stimme. Er drehte sich um und ging hinaus. An der Garderobe im Flur schlug ein Bügel scheppernd gegen die Holzpaneele, dann fiel die Haustür laut ins Schloss.
Schorsch erschien in der Zimmertür und schaute mit tief hängenden Ohren die dort sitzenden Menschen an, als wollte er fragen: Wieso geht der ohne mich weg, und was sitzt ihr hier so dumm herum, anstatt mit mir spazieren zu gehen? Die Menschen blieben reglos. Jeder starrte stumm vor sich hin. Schorsch verschwand wieder im Flur und trampelte sich knirschend eine Kuhle in seinem Körbchen zurecht, bevor er sich grunzend niedersinken ließ.
Max’ Finger ruhten auf dem Zeitungsartikel. »Sagt schon! Könnt ihr euch erinnern, ob es damals noch Berichte über ein zweites Findelkind gab?«
»Nein, gab es nicht«, sagte die Großmutter mit fester Stimme. »Das hätte man erfahren. Die ausführlichen Berichte standen zwar hier in den Regionalzeitungen, aber eine Nachricht über dein Auffinden kam abends sogar deutschlandweit in der Tagesschau. Hätte es ein zweites Kind gegeben, hätten sie darüber berichtet. Wie kommst du auf die Idee einen Zwillingsbruder zu haben?«
Max zuckte mit den Schultern.
Plötzlich sog die Großmutter hörbar die Luft ein. »Jetzt weiß ich, woran du denkst. Deshalb hattest du mich vor ein paar Wochen so wegen Maurice von Bentheim ausgefragt. Du glaubst jetzt, er sei dein Bruder! Aber das ist völlig unmöglich, Max!«
Max sah seine Großmutter trotzig an. »Wieso? Es kann doch sein, dass die erste Frau von Bentheim das Kind gar nicht selber bekommen hat, sondern dass meine echte Mutter es ihnen auf die Treppe gelegt hat. Und mich hat sie halt in der Uniklinik abgelegt. Einen hierhin, einen dahin.«
Die Großmutter schüttelte abwehrend den Kopf. »Hirngespinste! Junge, das sind Hirngespinste! Ich kannte die Hebamme, die Maurice auf die Welt gebracht hat. Ich war sogar befreundet mit ihr. Sie hat die sehr schwierige Schwangerschaft der Frau von Bentheim betreut und dann mit ihr diese äußerst problematische Geburt gemeistert.«
»Wieso schwierig?«,
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