Dunkler Zwilling
und schlürfte dabei wie ein Karpfen im Schilf, was Chiara zu missbilligenden Seitenblicken veranlasste.
»Ich nix Italiano«, erklärte Max. »Wenn ich sie mit dem Messer klein schneiden würde, dann würdest du schreien.«
»Und wie!«, kicherte Chiara und führte die nächste Portion zum Mund.
Max beobachtete sie lächelnd. Seit er sie heute Mittag vom Flugzeug abgeholt hatte, war sie ununterbrochen am Reden. Sie erzählte von Sizilien. Dass dort das Wetter auch nicht besser sei als hier. Grau, 12 Grad. Nichts Halbes, nichts Ganzes. Zu warm für Winterklamotten, zu kalt zum Baden. Dazwischen schob sie Kurzberichte über ihren Vater und dessen neue Familie ein.
»Francesco ist ja ganz lieb und nett, er hat sich auch voll die Mühe gegeben und für einen Sizilianer echt viel geredet. Allerdings habe ich nur die Hälfte verstanden. Ich kann eh nicht mehr so fließend Italienisch, aber was ich kann, habe ich in Monza gelernt, das ist etwas ganz anderes.«
»Wirst du ihn wieder besuchen?«, fragte Max.
Sie zuckte mit den Schultern. »Glaube nicht. Wollte ja nur mal wissen, wer er ist, was er für ein Typ ist und so, aber jetzt ist mein Bedarf gedeckt.«
»Du willst ihn nicht wiedersehen, obwohl er dein Vater ist?«
Chiara schob Spaghetti nach und grunzte. Dann schluckte sie und sagte: »Es ist eine andere Welt. Meine Mama hat mich ja gleich gewarnt.«
Max sah sich in der modernen, geräumigen Küche um, in der viel Edelstahl blitzte. Sie saßen an der Granitplatte des voluminösen Esstisches, der in der Mitte des Raumes stand. Max schätzte, dass allein diese Küche die Hälfte der Grundfläche des Hauses einnahm, in dem er wohnte. Im Vergleich zu mir, wohnt sie in einer anderen Welt, dachte er. Umso mehr schätzte er es, dass Chiara damit so natürlich und unverkrampft umging. Tat sie das nur, weil er Maurice ähnelte? Weil Maurice einer gewesen war, der hierher gehörte? Würde sie den ganz normalen Max in ihrer Nähe dulden, den Max hinter der Maurice-Maske?
»Los! Und jetzt erzähl du endlich! Was ist los bei euch in der Family?«
Max tat eine Weile so, als müsse er die Spaghetti ausführlich kauen, dann begann er zögerlich. Chiara hörte ihm aufmerksam zu. Ihre Miene begleitete und kommentierte mitfühlend alles, was er sagte. Plötzlich fiel es ihm nicht mehr schwer, ihr alles zu berichten, und nach einiger Zeit war Chiara über sämtliche Details informiert.
»Das ist ja nicht zu glauben«, flüsterte sie. »Einfach in einem Klo abgestellt. Wer tut so etwas?«
»Sie hat sich nicht gemeldet, und die Fahndung nach ihr verlief ergebnislos, hat Oma mir erzählt.«
»Woher wusste sie das so genau?«, fragte Chiara.
Max sah durch das bodentiefe Fenster hinaus auf die perfekt gepflegte Rasenfläche. Kein Blatt lag da noch, alle Büsche rundherum waren ordentlich geschnitten. Ein wenig erinnerte ihn das an den Stadtpark oder den Friedhof. Maurice, dachte er. Wie oft hat Maurice hier so mit Chiara am Tisch gesessen?
Chiara wiederholte ihre Frage.
Max blinzelte, als wäre er gerade aufgewacht. »Oma kennt einen aus der Siedlung, der war früher bei der Polizei, seine Frau war beim Jugendamt, dadurch saß sie an der Quelle. Trotzdem denke ich …« Max sprach den Satz nicht zu Ende, sondern sah weiter grübelnd in die Ferne.
»Was denkst du?«, hakte Chiara nach.
Max sah sie prüfend an und meinte immer noch ehrliches Interesse zu spüren. »Willst du das wirklich wissen?«, erkundigte er sich probehalber.
»Ja!«, bestätigte sie überzeugt.
Er holte tief Luft. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie noch mehr über diese ganzen Geschichten von damals weiß und nicht alles erzählt.«
»Warum sollte sie dir jetzt noch etwas verschweigen?«
»Meine Oma schweigt immer aus einem einzigen Grund.«
»Und der wäre?«
»Sie will die anderen schonen. Meine Oma ist ein einziges wandelndes Schonprogramm! Mit schlechten Nachrichten rückt sie nur Löffelchen für Löffelchen heraus, damit ihre Lieben sich nicht daran verschlucken.«
»Und du meinst, sie weiß doch mehr über deine Herkunft, als sie dir erzählt hat?«
Max zuckte mit den Schultern.
Chiara überlegte laut: »Aber was kann das sein? Wenn sie zum Beispiel wüsste, wer deine Mutter ist, wäre es doch das Allerletzte, so was für sich zu behalten. So brutal kann sie nicht sein!«
»Vielleicht ahnt sie es ja auch nur. Schließlich kennt sie die Leute hier in der Siedlung ziemlich gut.«
»Aber es ist doch nicht gesagt, dass deine Mutter
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