Dunkler Zwilling
Großmutter erhob sich und ging zur Anrichte. Dort zog sie eine große Blechdose hervor. Max wusste, dass das ihre Sammelkiste für Rezepte und Zeitungsausschnitte war. Sie blätterte tief unten in der Kiste. Dann hatte sie ein vergilbtes Papier in der Hand und legte es vor Max auf den Tisch.
»Das hast du noch?«, rief Sonja erstaunt.
Die alte Frau nickte und beobachtete Max. Der starrte auf den alten Zeitungsartikel, der jetzt vor ihm auf dem Tisch lag. In der Mitte war eine Babymütze mit Streifenmuster abgebildet. Daneben lag ein Schnuller. Am Zeitungsrand zeigte ein Maßband die Größe der Gegenstände. Neugeborenes in der Uniklinik ausgesetzt . Max begann den Text zu lesen.
Ein Neugeborenes ist nur wenige Tage nach seiner Geburt in einer Besuchertoilette des Klinikums der Universität ausgesetzt worden. Die Herkunft des Kindes ist unklar. Die Polizei sucht auch am heutigen Freitag weiter nach der Mutter. Das Kind befindet sich in Obhut des Krankenhauses. Von dort erfuhren wir, dass es am Donnerstagabend gegen 18 Uhr von einer Besucherin entdeckt wurde. Das Baby war in eine hellblau-weiße Decke gewickelt und mit einer blauen Strampelhose mit Schmetterlingsapplikation und einem weißen Hemdchen bekleidet. Dazu trug es die abgebildete blau-weiß geringelte Mütze. Laut einer Sprecherin der Uniklinik soll der Säugling leicht unterkühlt, aber ansonsten gesund sein. Allerdings ist das Kind mit 47 cm recht klein und wiegt nur 2300 g. Es sei aber gut gepflegt und der Nabel professionell versorgt worden. Die Sprecherin meint, es könne sich durchaus um ein Frühgeborenes handeln. Der genaue Tag der Geburt sei schwer zu bestimmen. Das Kind wird vorerst in der Klinik verbleiben, bis es deutlich an Gewicht zugenommen hat. Das Jugendamt wurde benachrichtigt. Aus Datenschutzgründen wurde nicht bekannt gegeben, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Ferner wurden am Kind und in der Tragetasche, in der es ausgesetzt wurde, Gegenstände gefunden, welche nur die Mutter bzw. die Person kennen kann, die das Kind in der Uniklinik abgelegt hat. Aus ermittlungstechnischen Gründen werden diese Gegenstände noch geheim gehalten. Die Polizei hat ein Verfahren wegen Kindesaussetzung nach Paragraph 221 des Strafgesetzbuches eingeleitet und sucht nach Zeugen, die am Donnerstagnachmittag im Bereich der Kliniktoilette Beobachtungen gemacht haben, die mit dem Ablegen des Kindes in Zusammenhang stehen könnten. Auch wer Angaben über Frauen machen kann, die schwanger waren, jetzt aber kein Kind haben, wird gebeten, sich bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden.
Max las den Artikel ein zweites Mal. »Und das soll ich gewesen sein?«, flüsterte er schließlich.
Sonja nickte. »Ich erinnere mich an den Artikel. Ich weiß noch, wie ich damals dachte: Da ist eine verzweifelte Frau, die das Kind weggeben muss, und wir wünschen uns ein Kind und bekommen keins. Das ist ungerecht! Ich wusste, dass ich wegen einer Unterleibsinfektion keine Kinder haben konnte. Andreas und ich standen längst auf der Adoptionsliste des Jugendamtes. Ich weiß noch genau, wie ich damals im Mai 1997 plötzlich den Anruf bekam: ›Wir haben ein Kind für Sie!‹ Das ist noch heute die beste Nachricht, die ich in meinem Leben je erhalten habe. Endlich hatte das Warten ein Ende, wir haben uns so sehr gefreut. Wir erfuhren dann vom Jugendamt, dass du das Findelkind aus der Uniklinik bist. Du warst damals erst einmal in einer Pflegefamilie untergebracht, denn sie müssen bis acht Wochen nach der Geburt warten, ob sich die leibliche Mutter nicht doch noch meldet. Dann erst dürfen sie das Kind zur Adoption freigeben. Aber so lange darf ein Kind nicht namenlos und ohne Geburtsurkunde bleiben, deshalb wurde dieser Name für dich bestimmt.«
»Und wie kam dieser Amtsvormund ausgerechnet auf Maximillian Busch? Denkt der sich das frei Schnauze aus?«, fragte Max.
»So genau weiß ich das nicht«, antwortete Sonja. »Die Frau vom Jugendamt hat uns damals gesagt, dass es in der Tragetasche einen Hinweis gab, der auf ›Max‹ und auf ›Busch‹ deutete. Daher hätten sie sich für diesen Namen entschieden, weil sie dem Kind damit wenigstens eine kleine Anbindung an seine Herkunft erhalten wollten.«
»Und den Friedhelm und Wirsing habe ich dann euch zu verdanken?«, fragte Max mit sichtlicher Geringschätzung.
»Wir durften deinen Vornamen noch ergänzen«, erklärte Sonja.
»Es war mein Wunsch«, schaltete sich die Großmutter ein. »Du weißt
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