Dunkler Zwilling
eine von hier aus der Siedlung ist, oder hängst du jetzt wieder aufs Neue der Idee nach, Maurice könnte dein Zwilling gewesen sein?«
Max schüttelte den Kopf. »Das hat Oma sogar widerlegt. Sie kannte die Hebamme, die Maurice auf die Welt gebracht hat. Maurice ist kein Findelkind wie ich.«
Chiara verzog schmerzlich das Gesicht. »Das hätte ich dir auch alles sagen können. Gero hat Mama und mir sogar erzählt, wie das damals war. Maurice wurde in dem Zimmer geboren, das dann später sein Kinderzimmer wurde. Gero hätte den kleinen Kerl im Arm gehabt und sei der glücklichste Mann der Welt gewesen. Ein gesunder, kleiner Junge! Ein Göttergeschenk, hat er gesagt.«
»Wann hat er das erzählt?«
Chiara verzog nachdenklich das Gesicht. »Es war, nachdem wir von Maurice’ Beerdigung zurückkamen. Ich habe Gero noch nie so aufgelöst gesehen, es war das Schlimmste, was ihm passieren konnte. ›Wie konnte er das nur tun?‹, hat er ständig gefragt.«
»Er glaubte also auch, dass es Selbstmord war?«
»Ja, es war Selbstmord!«, fuhr Chiara heftig auf.
Max verzog skeptisch die Mundwinkel. »Warum bist du dir da so sicher?«
Chiaras Augen wurden glasig. »In den letzten Wochen davor war er so – anders. Er war in sich gekehrt und nachdenklich.«
»Hast du ihn nicht gefragt, was mit ihm los war?«
»Doch, habe ich, und zwar genau einmal. Er hat zu mir gesagt, es ginge mich nichts an, ich soll lieber in die Stadt gehen und Klamotten kaufen, damit hätte ich genug Probleme bei meiner Figur. Da sollte ich mich mal besser drum kümmern.«
»Das war ja nicht gerade nett.«
Chiara sah Max mit bitterem Lächeln an: »So war er. Maurice war nicht gerade nett.«
Max schaute sie verblüfft an. »Ich dachte immer, ihr hättet euch so gut verstanden?« Chiara zuckte mit den Schultern. »Wir sind uns aus dem Weg gegangen, soweit das zu arrangieren war. Ich habe sogar meine Mutter bearbeitet, sie solle beantragen, dass ich in eine andere Klasse komme oder die Schule wechseln kann.«
»Und warum?«
»Maurice war ein Machtmensch. Einer, der sich nur gut gefühlt hat, wenn er über andere bestimmen konnte. Ich hatte die Nase voll davon, ihm ständig meine Hausaufgaben geben zu müssen und Referate für ihn zu schreiben und dafür verantwortlich zu sein, dass seine Noten einigermaßen auf Stand blieben.«
»Und warum hast du dann nicht gewechselt?«
»Weil Gero es nicht wollte. Er wollte, dass ich sozusagen als Back-up für Maurice einstehe und seinen Schulabschluss garantiere. Maurice war sein Kronprinz, sein Ein und Alles. Sein Stammhalter, der später einmal seine Firmen übernehmen sollte. Maurice und Michelle sollten erben, seine leiblichen Kinder eben. Und damit es nicht zu viele Erben gibt, hat er es auch schön vermieden, mich zu adoptieren. Darum heiße ich Chiara Plati und nicht von Bentheim. Scheiß drauf! Ich habe noch eine nette Familie in Monza.«
»Das ist die Mutter von deiner Mutter?«
»Ja. Mamas Schwester und ihr Mann wohnen auch noch im Haus und meine Cousine und mein Cousin. 15 und 17 Jahre alt, also ganz brauchbar.«
Max lächelte. »Irgendwie sitzen wir beide im selben Boot.«
»Wie meinst du das?«
»Wir sind auf der Suche danach, wer wir sind und wohin wir gehören.«
Chiara stand auf, um die Teller abzuräumen. »Ist das nicht jeder, irgendwie?«
Max brachte Chiara das restliche Geschirr zur Spülmaschine. »Darf ich noch einmal in Maurice’ Zimmer?«
Chiara stöhnte. »Warum das jetzt?«
Max erklärte: »Das letzte Mal war ich dort, als ich noch fest überzeugt war, er sei mein Bruder. Jetzt möchte ich mich dort von dem Gedanken verabschieden.«
»Du weißt, dass Gero das letzte Mal fast ausgetickt ist, als er uns dort oben stehen sah. Er mag es nicht, wenn ich Besuch in den ersten Stock bringe, das ist absolute Familien-Sperrzone.«
Max nickte. »Ich hatte damals einen Moment den Eindruck, er hielt mich für Maurice und hat sich tief erschreckt!«
»Blödsinn!«, murmelte Chiara und stieg vor ihm die Treppe nach oben. Max folgte ihr lautlos über den weichen, tiefen Teppich.
»Ihr habt es noch immer so gelassen, wie es war?«
Chiara nickte und ließ die Tür aufschwingen. »Bitte sehr, tu dir keinen Zwang an, sing dein Abschiedslied!«
Max trat vorsichtig ein. Der Raum wirkte jetzt kleiner auf ihn, als er ihn in Erinnerung hatte. Er erklärte sich das damit, dass Maurice für ihn bei seinem letzten Besuch in diesem Zimmer, kurz nach den Herbstferien, so etwas wie ein
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