Dunkler Zwilling
heute morgen sah, dass alles weiß ist, erinnerte ich mich, dass du mir von deinem Schneeräumjob erzählt hast. Da dachte ich, das schaffst du nicht ohne mich«, rief sie ihm durch den Flockenwirbel zu.
»Danke«, hauchte Max und machte sich wieder an die Arbeit. In seinem Bauch wirbelten trotz der unpassenden Jahreszeit tausend bunte Schmetterlinge umeinander. Chiara begleitete ihn zu allen Arbeitsstellen. Schließlich kamen sie wieder vor dem Haus der Wirsings an. Sie befreiten auch dort den Gehweg vom Schnee und verteilten die letzten Reste des Streumittels aus dem Eimer. Plötzlich öffnete sich die Haustür. Max’ Großmutter erschien im Bademantel mit Streublümchenmuster und winkte sie herein zu heißem Kakao. »So viel Zeit muss noch sein«, erklärte sie.
»Eigentlich nicht«, brummte Max. »Bei dem Schnee brauchen wir eine halbe Stunde durch das Wäldchen bis zur Schule.«
»Eigentlich doch«, erklärte Chiara. Sie hatte die Fäustlinge bereits abgestreift und ihr Smartphone gezückt. Während ihre Finger über das Display glitten, sagte sie: »Wir müssen uns das jetzt nicht geben, mit der ganzen Meute durch den Schnee zu stapfen. Onkel Ernst kann uns mit dem SUV bringen. Oder hast du was dagegen?«
Max schob die Unterlippe vor. Eigentlich hatte er etwas dagegen. Jedoch wollte er Chiara nicht widersprechen – jetzt, wo sie nach dieser langen Woche zu ihm gekommen war. Vielleicht hatte sie ja wirklich nur die Grippe gehabt. Eigentlich war es verlockend, noch ein paar ruhige Minuten mit ihr verbringen zu können, und dafür nahm er den alten Köhler gerne in Kauf.
Seine Großmutter hatte die Zeichen verstanden und sich nach oben zurückgezogen. Chiara und Max saßen am Küchentisch. Darunter war Schorsch damit beschäftigt, das Handtuch, mit dem Max sein nasses Fell trockengerieben hatte, wie eine Beute niederzuringen und zu schütteln. Chiara umfasste mit beiden Händen die heiße Tasse und beobachte lächelnd das Treiben des Hundes. Max studierte ihre Körpersprache. Etwas war anders an ihr. Sie wirkte so durchsichtig. In ihren Augen lag ein Hauch von Traurigkeit. Das Lächeln war nicht das offene Chiara-Lächeln, das er kannte. Es schien wie mit einem Schleier verhangen. Ihr Oberkörper war gebeugt, wie unter einer schweren Last.
»Alles wieder okay bei dir?«, fragte Max vorsichtig.
Chiara sah erschreckt auf.
Max zuckte ebenfalls zusammen. Hätte er das nicht fragen dürfen? Noch nicht einmal das? »Ich meine wegen der Grippe«, schob er nach.
Chiara schien unmerklich aufzuatmen. »Die Grippe. Ja, das ist wieder okay«, antwortete sie und schaute erneut unter den Tisch und von dort zu der verglasten Terrassentür, die in den Garten hinausführte. Inzwischen war es hell geworden. Draußen löste sich plötzlich ein pudriger Schneeschauer aus einer Fichte und stob über die wippenden Zweige hinab. Dadurch lösten sich immer weitere Kaskaden bis sich alles in einem kleinen Schneeberg unter dem Baum ansammelte. Verursacher war ein Eichhörnchen, das mühsam versucht hatte, sich von Ast zu Ast durch den verschneiten Baum zu bewegen. Auch Max war aufmerksam geworden und beobachtete das emsige Tierchen. »Der Kleine wird es heute nicht so leicht haben, seine Vorräte zu finden«, kommentierte er.
Chiara horchte auf. »Halten die nicht eigentlich Winterschlaf?«, fragte sie.
Max schüttelte den Kopf. »Eichhörnchen sind Winterruher. Sie ziehen sich in ihr Nest zurück, aber wenn sie Hunger haben, stehen sie auf und gehen an ihre Vorratskammern, die sie sich im Herbst angelegt haben.«
»Und das nennt sich dann das Eichhörnchen-Prinzip?«, fragte Chiara.
Max sah sie erstaunt an. »Das Wort habe ich noch nicht gehört.«
Chiara wirkte plötzlich seltsam alarmiert »Wie würdest du es deuten, wenn jemand zu dir sagt, dass er etwas nach dem Eichhörnchen-Prinzip macht?«
»Ich würde sagen, er sammelt alle möglichen Vorräte und versteckt sie dann irgendwo.«
Chiara schüttelte den Kopf. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber das kann er nicht gemeint haben. Es muss noch etwas anderes geben, was Eichhörnchen tun und was man so bezeichnen könnte.«
Über Max’ Gesicht huschte plötzlich ein Ausdruck des Verstehens. »Der das zu dir gesagt hat, war Maurice, nicht wahr?«
Chiara nickte. Ihre Augen wurden sofort feucht. »Es ist mir plötzlich wieder eingefallen. Er sagte es in der Zeit, als er sich so verändert hatte. Er verließ behängt mit Taschen das Haus, als ginge er
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