Dunkler Zwilling
er damit gemeint hatte. Allerdings hatte er auch wieder diese Rühr-mich-nicht-an-Miene aufgesetzt gehabt, sodass sie es nicht gewagt hatte, nachzufragen. Sie hatte ihm nachgesehen, wie er den Weg in Richtung Klapperwiese gegangen war. Nicht hinüber zur Modertal-Siedlung wohlgemerkt.
»Was ist mit dir, woran denkst du?«, riss Franca sie aus ihrem Tagtraum.
Chiara schüttelte den Kopf. »Ich habe nur an Maurice gedacht. Wusstest du, dass er als kleines Kind in psychologischer Behandlung war?«
Franca nickte. »Er hat sehr unter dem Tod von Margit Köhler gelitten. Sie war seine Kinderfrau und hat sich um ihn gekümmert wie eine Mutter. Als er drei Jahre alt war, wurde sie schwer krank und starb etwa zwei Jahre später. Das hat er nicht verkraftet. Es hat mich viel Mühe gekostet, sein Vertrauen zu gewinnen. Aber ein Schatten bleibt bei solchen Dingen immer zurück.«
»In dem Gutachten steht das aber anders.«
»In welchem Gutachten?«
Chiara berichtete von dem Ordner, den sie gefunden und durchgelesen hatte. Köhlers Auftritt dabei ließ sie unerwähnt.
Francas Gesicht wurde trotz der Urlaubsbräune zunehmend blasser. »Es ist nicht in Ordnung, Chiara, dass du einfach an Geros Unterlagen gehst!«
»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn du das selbst einmal getan hättest, dann könnte er dir nicht so einfach seine Geschichten erzählen. Von wegen, die Frau ist nach Maurice’ Geburt gestorben. Ist sie nicht, wie man da schwarz auf weiß sieht. Du musst Gero zur Rede stellen und herausfinden, was eigentlich mit seiner Frau passiert ist. Vielleicht ist deine Ehe mit ihm ungültig, weil es die andere immer noch irgendwo gibt.«
Franca schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Chiara, hör auf! Ich muss ihn nicht zur Rede stellen. Ich wusste, dass seine Frau damals noch lebte. Er ist ordnungsgemäß von ihr geschieden worden, bevor wir geheiratet haben. Wir haben das nur euch Kindern so nicht erzählt.«
»Und warum habt ihr uns angelogen?«
»Weil die Wahrheit viel unerträglicher und für kleine Kinder nicht zu verstehen gewesen wäre.«
»Aha. Und jetzt? Bin ich jetzt langsam in einem Alter, in dem ich das verstehen kann?«
Franca nickte flüchtig. Sie fuhr sich hektisch durch ihr langes, dunkles Haar und strich es über die Schultern zurück.
Chiara beobachtete sie dabei mit herausforderndem Blick. »Nun sag schon! Erkläre es mir!«
Franca zwinkerte nervös und sagte mit brüchiger Stimme: »Ich werde es dir erklären, aber bitte belaste Gero nicht mit Fragen zu diesen Ereignissen. Wir haben gemeinsam beschlossen, die Vergangenheit, Vergangenheit sein zu lassen. Friederike von Bentheim hatte eine psychische Krankheit. Diese Krankheit war sehr belastend für alle, die mit ihr zu tun hatten. Es gab Momente, da war sie ganz normal und dann benahm sie sich plötzlich wie ein Monster. So jedenfalls hat Gero es mir erzählt. Es war eine schreckliche und für die Familie nicht mehr tragbare Situation. In hellen Momenten erkannte sie das und hat in die Scheidung eingewilligt. Sie ist in eine geschlossene psychiatrische Klinik gekommen. Dort ist sie vor eineinhalb Jahren gestorben.«
»Vor eineinhalb Jahren erst? Also in Maurice’ Todesjahr?«
Franca nickte. »Sie hat Maurice um einen Monat überlebt. Sie starb im September 2011.«
»Und da bist du nicht auf die Idee gekommen, dass es einen Zusammenhang geben könnte mit Maurice’ Tod? Vielleicht hat Maurice sie ja dort besucht und das nicht verkraftet. Vielleicht war das der Auslöser!«
Franca schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Für Maurice war sie seit seiner Geburt tot. Gero hat keinerlei Hinweise auf sie hier im Haus gehabt und niemand außer ihm wusste, in welcher Klinik sie war, noch nicht einmal ich.«
»Es sei denn, eine alte Hexe hat alles gewusst und wollte Gero und Maurice Böses antun, indem sie Maurice alles verriet.«
»Bina, was redest du da für einen Unsinn?«
»Das ist kein Unsinn«, erklärte Chiara und berichtete Franca von der Streitszene zwischen Gero und der alten Frau, die sie und Maurice belauscht hatten.
Franca starrte ihre Tochter entsetzt an. Mit zitternden Lippen fragte sie: »Und du meinst, Maurice hat seine Mutter besucht, ihren schrecklichen Zustand erlebt und sich umgebracht, weil er das nicht verkraftet hat?«
»Vielleicht«, flüsterte Chiara. »Irgendwie klingt es plausibel.«
Franca schüttelte abwehrend den Kopf. »Aber so einer war Maurice nicht. Ich habe ihn als einen erlebt, den das
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