Dunkler Zwilling
von wem hast du die bekommen?«
»Sag ich nicht!«, antwortete Chiara schnell. Plötzlich bekam sie Angst. Angst um Max.
»Chiara!«, fuhr Franca mit schriller Stimme dazwischen. »Lass diesen Blödsinn! Gero, das ist alles pure Fantasie! Sie fühlt sich betrogen, weil wir den Kindern vorenthalten haben, dass deine Ex-Frau nicht nach der Geburt von Maurice, sondern erst viel später in der Klinik gestorben ist. Jetzt reimt sie sich alle möglichen Geschichten zusammen.«
Gero von Bentheim hatte seinen kalten Blick nicht von seiner Stieftochter gelassen. Mit leiser Stimme, die etwas sehr Bedrohliches hatte, sagte er: »Nein, das glaube ich nicht. Da scheint ihr jemand etwas zugeflüstert zu haben. Vielleicht hat sie ja sogar den Auftrag, hier ein bisschen herumzuspionieren.« Er sog hörbar die Luft ein und dann brüllte er: »Schämst du dich nicht, in die Hand, die dich jahrelang – wie nicht zu übersehen ist – gut gefüttert und gekleidet hat, so hinterhältig hineinzubeißen?«
Chiara zuckte zusammen, doch sie hielt seinem Blick stand. »Es ist die Hand eines Lügners und Mörders!«, presste sie hervor. Ein wenig erschrak sie selbst über ihre Reaktion. Aber, warum musste er auch »gut gefüttert« sagen? Warum musste er so gemein sein?
Gero nickte ganz langsam. Er betrachtete Chiara mit angewiderter Miene: »Also gut. Du hast mir den Krieg erklärt. Ich verbiete dir, mein Arbeitszimmer noch einmal zu betreten! Ich verbiete dir, dich in die Angelegenheiten meiner Familie einzumischen und noch irgendein Wort in dieser Richtung zu verlieren. Solltest du dich nicht daran halten, kannst du sofort deine Koffer packen und zu deiner Familie nach Monza ziehen. Hast du verstanden?«
Chiara spürte, wie ihr wieder Tränen in die Augen schossen. Sie sprang auf, drängte sich an Gero vorbei, der dies mit eisiger Miene geschehen ließ, und rannte aus dem Zimmer. Sie hörte, wie Franca sich lautstark mit ihm zu streiten begann. Chiara wollte nur noch weg. Sie riss ihre Jacke vom Bügel und stürzte hinaus in die Dunkelheit. Ungewohnt eisiger Wind fegte ihr die Tränen aus den Augen. Das Wetter schien umzuschlagen.
Der Fiepton holte Max gnadenlos aus einem Traum, der sich sofort auflöste und jede Erinnerung löschte. Es blieb nur ein dumpfes Gefühl, das er nicht deuten konnte. Es hatte etwas mit tiefer Enttäuschung zu tun und mit der Angst, sich in einem grenzenlosen Universum von Möglichkeiten verirrt zu haben.
Max setzte sich auf und blinzelte zum Fenster hinaus. Der Himmel war noch dunkel, nur das fahle Licht der Straßenlaterne bahnte sich einen Weg durch helle, umherwehende Flusen. Es wirkte wie eine Bildstörung im Fernsehen. Inzwischen war Max eingefallen, warum sein Handywecker ihn zu dieser Nachtzeit aus dem Schlaf geholt hatte. Ferien vorbei! Der Schultrott nahm wieder seinen Lauf.
Schorsch stieß seine feuchte Nase gegen Max’ Knie und umtänzelte seinen Rudelführer mit wackelndem Hinterteil, als dieser sich erhob und zum Fenster hinausblickte. »Das gibt’s ja gar nicht«, flüsterte Max, als er mit der Nase dicht an der Scheibe die Außenwelt inspizierte. Über Nacht war der Winter gekommen. Die Flusen im Lichthof um die Laterne entpuppten sich als heftiges Schneegestöber. Dumpf hörte man das Kratzgeräusch der Schneeschieber und das Zischen der Besen rundherum aus der Siedlung. Max seufzte. Herold, Pfannmüller und die alte Frau Hufnagel. Bei diesen Nachbarn hatte er sich zum Schneeräumen verpflichtet und sich gedacht, dass das eine gute Einnahmequelle in den Ferien sein würde. Dass die Hauptsaison einfach am ersten Schultag begann, war nicht fair von diesem Winter. Aber avanti, würde Chiara jetzt sagen. Ein wehmütiges Lächeln glitt über Max’ Gesicht. »Avanti, Schorsch, es macht keinen guten Eindruck, wenn man gleich am ersten Schultag zu spät einläuft! Komm, wir gehen Schneeräumen!«
Wenig später versuchte Max nach Kräften auf dem Gehsteig der Hufnagel, deren herausgeputztes Häuschen direkt gegenüber dem der Wirsings lag, die Schneemassen zusammenzuschieben. Plötzlich hörte er, wie jemand hinter ihm mit heftigem Schrubbergeräusch kehrte. Er fuhr herum und entdeckte Chiara. Sie trug eine dicke Pudelmütze, unter der ihre wilden Locken hervorquollen. Ihre Wangen glühten vor Kälte. Um ihre Augen tanzte ein wärmendes Lächeln. Ihre Hände steckten in dicken Fäustlingen und umschlossen tatendurstig den Besenstiel. Die Hälfte des Weges hatte sie bereits gekehrt.
»Als ich
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