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Dunkler Zwilling

Dunkler Zwilling

Titel: Dunkler Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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Papierkorb war geleert. Hatte sie vielleicht selbst alles in Sicherheit gebracht und erinnerte sich nicht mehr daran, weil sie so völlig übermüdet gewesen war? »Fang ich jetzt langsam an zu spinnen?«, murmelte sie. Sie öffnete den Kleiderschrank. Nichts. Tränen der Wut schossen ihr in die Augen. Sie lief zu ihrer Zimmertür und brüllte durchs Haus: »Gero!« Noch einmal schrie sie aus Leibeskräften: »Gero! Gib mir auf der Stelle meine Sachen zurück. Du hast kein Recht mich zu beklauen! Und nützen tut es dir auch nichts! Ich weiß alles. Ich kann das jederzeit wiederherstellen. Hast du gehört?«
    Es kam keine Antwort. Im Haus blieb es still. Nur der Wind pfiff ums Dach.
    »Na, warte, so kommst du mir nicht davon!«, knurrte Chiara. Sie lief hinunter zu Geros Arbeitszimmer. Abgeschlossen. Chiara lachte bitter auf. Sie wusste, wo die Ersatzschlüssel zu allen Türen im Haus aufbewahrt wurden.
    Wenig später kam sie mit einem Schlüsselbund zurück und fand den passenden, der ihr Eintritt in Geros verbotenes Reich gewährte. Sie stand ein wenig unschlüssig in dem düsteren Raum. Die bodentiefen Sprossentüren führten hinaus auf die Terrasse. Dort spielte der Wind mit den zarten Schneekristallen.
    Warum war sie eigentlich hierher gekommen? Sie hoffte, ihre Sachen zu finden. Sie wollte Gero zur Rede stellen. Beides war nicht möglich. Mit einem Blick ins Regal stellte sie fest, dass der Ordner mit der Aufschrift »Maurice« verschwunden war. »Radierertyp«, stieß sie hervor. Eine nie gekannte Wut schäumte in ihr auf. Sie sah hinüber zu dem Sessel, der mit einer Fußbank davor zum gemütlichen Verweilen mit Blick auf Terrasse und Park einlud. Daneben stand ein kleiner Tisch mit Getränkeflaschen. »Na gut, ich kann warten«, zischte sie. Als ihr Blick über den Schreibtisch glitt, kam ihr eine Erinnerung. Diesmal war die Schublade nicht abgeschlossen. Der Umschlag mit dem Geld für Köhler war nicht mehr da. Der interessierte sie auch nicht. Sie tastete, fand das Diktiergerät und steckte es in die Tasche ihrer Strickjacke. Dann ließ sie sich auf dem Sessel nieder und schenkte sich ein wenig Bitter Lemon in ein Glas, das sie großzügig mit Wodka auffüllte. »Ich kann warten«, flüsterte sie und hatte schmale Augen wie eine lauernde Katze.
    Der eisige Wind pfiff um die Ecke des alten Bahnhofsgebäudes. Justin zog seine Jacke dichter um den knochigen Körper. Der Wind trieb ihm Tränen in die Augen und er drückte sich gegen die raue mit allerlei Sprayer-Tacks übersäte Wand. Die S-Bahn aus Richtung Stadt war vor einiger Zeit angekommen. Eine Handvoll Fahrgäste hatte sich schnell in verschiedene Richtungen zerstreut und der Fahrer hatte seine übliche Pause an der Endstation eingelegt.
    Justin lauschte in das Konzert des Windes hinein. Jetzt hörte er das, worauf er gewartete hatte. Es knackte und kratzte im Lautsprecher. »Bitte zurücktreten!« Dann setzte sich die Bahn mit kreischenden Schleifgeräuschen in Bewegung Richtung Stadt. Justin spähte vorsichtig um die Ecke. Der Bahnsteig war wie leer gefegt und verschwand gemeinsam mit dem Band der Schienen als lang gezogene Linie in der Dunkelheit.
    Justin kontrollierte mit den Blicken vorsichtshalber alle Fenster des Bahnhofsgebäudes. Von dort drohte eigentlich keine Gefahr. Es war schon seit Jahren geschlossen. Sein Großvater hatte ihm erzählt, dass früher »richtige« Züge hier vorbeigefahren waren und sich im Innern des Gebäudes außer den Fahrkartenschaltern ein beheizter Wartesaal, eine kleine Gaststätte und ein Kiosk befunden hatten. Da war bestimmt an einem Samstagabend mehr los gewesen als jetzt. Plötzlich erstarrte Justin und stöhnte leise. Ausgerechnet der musste jetzt hier auftauchen! Eine leicht gebückte Gestalt in einem unförmigen Anorak, dessen Kapuze weit über die Stirn gezogen war, torkelte den Bahnsteig entlang. Es war Tippel-Heiner, der Justin bestens bekannt war, weil er öfter in einer der Gartenhütten in der Nähe von Mittelerde nächtigte. Tippel-Heiner zog von Papierkorb zu Papierkorb und durchsuchte sorgfältig den Inhalt nach Essbarem und nach Pfandflaschen. Bei jedem Fund stieß er ein heiseres Kichern aus und verstaute ihn umständlich in einer seiner vielen Jackentaschen. Justin verbarg sich hinter einer Ecke des Bahnhofgebäudes und lugte nervös zur Bahnhofsuhr. Endlich verschwand Tippel-Heiner wieder. Justin atmete auf. Seiner Mission stand nun nichts mehr im Weg. Es war ein selbst gestellter Auftrag, den

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