Dunkler Zwilling
Horrorwochenende ihres Lebens. Am Freitag hatte sie mit Alexandra Meixner gesprochen. Freitagabend nach dem Essen hatte sie gehört, dass Franca und Gero sich heftig stritten. Franca hatte dann eine große Reisetasche und Michelle ins Auto gepackt und Chiara weismachen wollen, sie fahre jetzt gemeinsam mit der Kleinen zu einem Wellness-Wochenende. Sie erklärte das mit einem plötzlich entdeckten günstigen Angebot für Schnellentschlossene, das sie sich nicht entgehen lassen wollte. Chiara hatte nur müde gelächelt und ihr und Michelle gute Erholung gewünscht.
Den Samstagvormittag hatte sie in ihrem Zimmer am Computer verbracht. Sie hatte die Links im Internet aufgerufen, die sie in Maurice’ Blättern finden konnte und dadurch seine Unterlagen nahezu vollständig rekonstruiert. In der Tat hatte er sich bis ins kleinste Detail kundig gemacht über diese schreckliche Krankheit. Aber warum hatte er das getan? Er war doch gesund?
Unter einen Text über den Verlauf der Krankheit hatte Maurice geschrieben: Live hard, love deep, die young! Lebe heftig, liebe tief, stirb jung, übersetzte Chiara. Irgendwo hatte sie diesen Spruch schon einmal gehört. Es war das Lebensmotto von jemandem, der nur noch in der Gegenwart zu Hause war, für den es keine Zukunft mehr gab. Ein Zukunftsverweigerer. Eigentlich passte das nicht zu Maurice. Hatte er diesen Spruch für sich aufgeschrieben oder als Fazit zum Leben seiner Mutter?
Irgendwann in diesem verhängnisvollen Sommer 2011 schien es ihm tatsächlich gelungen zu sein, sie ausfindig zu machen und zu besuchen. Warum hatte er das getan? Nie hätte sie den coolen Maurice als jemanden eingeschätzt, der sich sentimental auf die Suche nach seiner Mutter machte. Nie hatte er von ihr gesprochen. Eigentlich hatte er doch gar keine Bindung zu dieser Frau gehabt. Warum besucht man eine Person, die einem eigentlich gleichgültig ist, über die man aber erfährt, dass sie eine grausame Krankheit hat? Aus Mitgefühl? Maurice? Niemals! Nach langem Abwägen fiel Chiara nur ein einziges Motiv ein, das zu Maurice passte. Er hat seine Mutter besucht, nicht weil sie seine Mutter war, sondern weil er mit eigenen Augen sehen wollte, wie das Endstadium dieser Krankheit aussah. Und dergleichen tat man nicht, wenn man gesund war, dergleichen tat man, wenn man wusste, dass man selbst dieses Gen in sich trug. Wie um alles in der Welt war er zu dieser Annahme gekommen?
Mit einem Mal stand Chiara die Lösung vor Augen. Atemlos hatte sie sich Notizen in Form eines Mindmaps gemacht. In der Mitte standen Max und Maurice. Max’ Namen hatte sie in roter Schrift geschrieben. Maurice’ Namen in Grün. Einer grün, einer rot, einer krank, einer gesund, flüsterte sie.
Dann trug sie in die Übersicht alle ihr bekannten Stationen des Lebens der beiden Jungen ein und dazu Personen, zu denen sie notierte, wann sie über welche Informationen verfügt haben und was sie damit hätten anfangen können. Der Wortlaut des Streites zwischen Brigitte Wiesner und Gero kam ihr dabei so lebendig in den Sinn, als stände sie gerade dabei. Knöchlein oder Hölzchen?
Sie ließ den Stift sinken und wusste nicht, was sie jetzt fühlen sollte. Erleichterung und grenzenlose Trauer vermischten sich. Rot und Grün verschwammen ineinander. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein.
Sie setzte sich mit einem Ruck auf und bewegte sich auf wackligen Beinen zum Fenster in der Dachgaube. Sie öffnete beide Flügel. Eiskalte Luft schlug ihr entgegen. Die Frische tat gut. Die Landschaft sah aus wie ein naives Bild. Baum, Zaun, Gartenhaus. Über alles breitete sich eine pudrige Schneeschicht, die ein heftiger Wind zerstäubte. Das Wetter wechselte. Für morgen waren heftige Schneefälle angekündigt. Chiara wendete sich wieder ins Innere des Zimmers, nahm ihre Strickjacke vom Stuhl in der Fensternische und zog sie schnell über. Sie wollte ausgiebig lüften. Eine Windbö schlug ihr entgegen und fauchte durch die Fensterhöhle. Chiara dachte an die Papiere auf der Schreibtischplatte. Nicht dass noch etwas Wichtiges wegflog. Suchend schaute sie sich um und kniff die Augen zusammen, weil es im Zimmer viel dunkler war, als vor dem Fenster. Sie erstarrte. Nichts! Der Schreibtisch war leer, kein einziges Blatt darauf zu sehen. Dort, wo ihr Laptop gestanden hatte, ringelte sich ein einsames Kabel.
»Das gibt’s doch nicht«, flüsterte sie. »Das darf doch einfach nicht wahr sein!« Mit fahrigen Fingern durchsuchte sie ihr Zimmer. Selbst der
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