Dunkler Zwilling
nach.
Samstag, der 19. Januar
Man glaubt es nicht, aber dieses Tagebuch hat die Katastrophe tatsächlich im Bauch des Tigers einigermaßen überstanden. Die Seiten sind ein bisschen gewellt von der Feuchtigkeit, aber ansonsten alles okay.
So ähnlich ist es auch mit uns. Oma hat alles bestens verkraftet und empfängt im Krankenhaus ihr komplettes Kaffeekränzchen. Sie muss dann noch ein paar Wochen in die Reha. Die Zeit will Papa nutzen, um sich um den Wiederaufbau zu kümmern. Er sitzt im Krankenhausbett und zeichnet Pläne. Alle loben Opa Friedhelm, der, ohne dass es einer ahnte, eine super Versicherung abgeschlossen hat, die fast alle Kosten übernimmt. Originalton Oma dazu: Das hat er mir verheimlicht, mein Friedhelm, weil er genau wusste, ich schimpfe, dass er sich schon wieder etwas hat aufschwätzen lassen. Da sieht man’s mal wieder. Alles hat irgendwo sein Gutes.
Die Nachbarn haben außerdem noch ein Spendenkonto eingerichtet und ein anonymer Spender hat dort einen ziemlich dicken Betrag eingezahlt. Kurt Herold hat es gleich in den Fingern gejuckt, weil er der Ansicht ist, dass es der Brandstifter war, weil den das Gewissen plagt.
Morgen kommt Papa raus und ich wette, dass er mich dann zu seinem Kompagnon in Sachen Hausbau macht. Hallo, ihr Baumärkte, wir kommen!
Ich hab gerade unten mit den Herolds und Mama Sonja gefrühstückt. Sitze nun in dem Zimmer von Herolds Sohn, das aussieht wie eine Abstellkammer und fühle mich auch so. Abgestellt. Entsorgt. Mama Sonja geht es ähnlich. Ohne Andreas ist sie zu keinem vernünftigen Schritt fähig. War das schon immer so? Ich frag mich, ob ich später irgendwann auch mal mit einer Frau leben will, die dermaßen abhängig von mir ist. Nee, wirklich nicht. Dann lieber eine wie Chiara. Eine, die ihren eigenen Kopf hat und Entscheidungen fällt und selbst weiß, was sie tut. Zurzeit geht sie mir damit allerdings ein bisschen auf den Keks. Von wegen sie fühle, dass da was mit Magen-Darm auf sie zukommt. Das glaubt, wer will, ich nicht. Sie hat da irgendein Ding am Laufen und will mir nichts darüber erzählen. Vielleicht hat es mit diesen Briefen von der Wiesner zu tun. Sie meinte, die müsste man noch einmal genau lesen. Darin sei eine Botschaft verborgen. Okay, das mit Max und Moritz könnte eine Andeutung sein, dass Maurice und ich tatsächlich Zwillinge sind. Irre, dass das jetzt herauskommt, wo es mir eigentlich gar nicht mehr so wichtig ist. Heute Morgen habe ich aus purer Langeweile die Briefe noch einmal gelesen. In dem Brief, den die Wiesner an meine Oma geschrieben hat, gibt es eine merkwürdige Passage.
Max legte das Tagebuch beiseite und kramte den Brief noch einmal hervor. Wieder las er den Abschnitt und schrieb ihn in sein Tagebuch ab.
Ich weiß, dass ich dadurch einen jungen Menschen mit einer schlimmen Nachricht konfrontieren muss, aber dieses Schicksal habe ich selbst verursacht.
Welchen jungen Menschen meint sie? Maurice oder mich?
Was soll das für eine schlimme Nachricht sein? Meint sie, dass sie mich über meinen Start im Krankenhausklo aufklären will, oder wollte sie Maurice etwas mitteilen? Vielleicht, dass er einen Zwillingsbruder hatte? Wäre das so schlimm?
Aber vielleicht wollte sie ihm auch mitteilen, dass er Eltern hat, die seinen Bruder töten wollten. Das ist schlimm. Mir ist das inzwischen beinahe egal. Ich habe andere Sorgen. Was immer damals im Haus der Bentheims vor sich gegangen ist, ich will es echt nicht mehr wissen. Solche Leute als Eltern, nee danke!
Max wollte den Brief wieder in die Keksdose zurücklegen. Da blieb sein Blick an den nächsten Zeilen hängen.
Was mein Auftraggeber nicht weiß, vielleicht aber ahnt, ist, in welchem Ausmaß ich ihn betrogen habe. Es war mir eine gewisse Genugtuung, ihn auf meine Weise seine Sünde büßen zu lassen.
Max dachte nach. Was meinte die Wiesner damit? Meinte sie nur, dass sie das Kind ausgesetzt hat, anstatt es zu töten oder hat sie noch etwas anderes gemacht? Aber was?
Egal!
Max verstaute die Papiere wieder in der Keksdose und schrieb eine SMS an Chiara. Missmutig las er ihre Antwort. Wieder ein Korb! Es ginge ihr gerade so schlecht. Die hatte gut reden in ihrem Nobeltempel!
Chiara schlug die Augen auf. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie wieder wusste, wo sie war. Sie befand sich in ihrem Zimmer und lag wie ein verletztes Tier zusammengerollt zwischen Kissen und Decken in ihrem Bett.
Es war Wochenende, genauer gesagt Samstagnachmittag. Es war das schlimmste
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