Dunkler Zwilling
er in regelmäßigen Abständen vor allem samstags zu dieser späten Uhrzeit erledigte. Gut zehn Minuten Zeit bis zur nächsten Bahn würde er haben. Für ihn war es eine Art heilige Handlung, ein Gelübde, das er abgelegt hatte. Er tastete vorsichtig nach dem Filzstift und wollte sich gerade von der Wand lösen, als nicht weit von ihm entfernt eine dunkel lackierte Limousine vorfuhr. Justin wunderte sich. Wer ein solch teures Auto fuhr, hatte es kaum nötig, um diese Uhrzeit bei diesem Wetter zur S-Bahn-Station zu kommen. Und abzuholen gab es hier niemanden mehr.
Justin beschloss, dass es besser war, verborgen zu bleiben und drückte sich noch enger an die Mauer, sodass er fast vollständig hinter einem Vorsprung verschwand. Ein wenig beugte er sich nach vorne, damit er beobachten konnte, was sich dort drüben abspielte. Die Fahrertür wurde weit aufgestoßen. Mit etwas unbeholfenen Bewegungen schälte sich ein groß gewachsener, korpulenter Mann mit Stirnglatze und silbrigem Haar aus dem Auto. Er richtete sich auf, knöpfte seinen weiten Mantel zu, hustete und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
Plötzlich erkannte Justin, wer das war und erschrak. Das war der Mann, an den seine Eltern ihre Miete bezahlten und der sehr unangenehm werden konnte, wenn die nicht pünktlich eintraf. Eines Tages hatte der Mann in einer Gruppe von Bauarbeitern und Leuten mit Anzügen und Aktentaschen vor dem Haus gestanden und an der Fassade hinaufgesehen. Justins Vater hatte die Mutter und Justin auf den Balkon gerufen und hinunter gedeutet. »Schaut ihn euch genau an«, hatte sein Vater geschimpft. »So sieht der Kerl aus, der uns eines Tages hier rausjagt, weil er das Haus in einen teuren Luxusschuppen verwandeln will. Was aus uns wird, ist so einem scheißegal.« Justins Vater war schon ziemlich betrunken gewesen und hatte so laut geschrien, dass jeder es verstehen konnte. Der Mann hatte hinauf zu dem Balkon gesehen und Justin mit finsteren Blicken fixiert. Seitdem hatte er große Angst vor diesem Mann. Und nun war er plötzlich hier aus dem Auto gestiegen. Der Mann lief mit zielgerichteten, aber leicht taumelnden Schritten um das Auto herum. Dann öffnete er per Fernbedienung den Kofferraum. Der Deckel fuhr geräuschlos hoch. Der Mann beugte sich hinein und wuchtete etwas sehr Schweres und Sperriges, das in eine Decke gehüllt war, heraus. Er wandte sich mit seinem Gepäck auf beiden Armen in Justins Richtung und hantierte umständlich mit der Fernbedienung, da seine Last zu rutschen drohte und er nachfassen musste. Der Kofferraum schloss sich leise. Das fahle Licht der Straßenlaterne beleuchtete einen Augenblick, was er auf den Armen trug.
Justin erkannte ein Bein, das hin- und herbaumelte. Der Fuß steckte in dicken Wollsocken. Auch ein Arm löste sich aus dem Bündel. Der Mann wuchtete nach, dabei verrutschte die Decke und gab den Blick auf ein Gesicht im Schein der Straßenlaterne frei.
Ein eiskalter Schrecken durchfuhr Justin. Er wusste, wen der Mann da trug und es brauchte nicht viel Überlegung, um zu wissen, dass er nichts Gutes vorhatte. Hastig nestelte er nach seinem Handy und ließ den Mann nicht aus den Augen, der sich schweren Schrittes in Richtung der Schienen in Bewegung setzte.
Den ganzen Abend über hatte Max eine Unruhe in sich gespürt, die er nicht erklären konnte. Lange hatte er nicht einschlafen können und wurde plötzlich durch sein Handy aus dem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen gerissen. Ein Blick auf das Display zeigte »Unbekannt« an und er überlegte, ob er überhaupt drangehen sollte. Dann jedoch siegte die Neugier. Ein Stimmchen, das er sofort als Justins erkannte, japste und keuchte und flocht dazwischen Wortfetzen ein.
»Max, schnell zum S-Bahnhof. Er legt Chiara auf die Schienen.«
Die Verbindung brach ab. Max starrte einen Sekundenbruchteil verwirrt in die Dunkelheit. Dann schnellte er hoch, streifte die Jeans über den Schlafanzug, schlüpfte in die Turnschuhe und war bereits auf dem Weg. Er sprintete, kürzte quer durch Gärten ab, sprang über halbhohe Zäune. Diese Route war ihm bekannt, da er sie manchmal wählte, wenn es morgens knapp wurde. Drei Minuten später traf er vor dem Bahnhofsgebäude ein. Dort stand bereits Justin neben einem dunklen Auto, das Max sofort als den Firmenwagen von Bentheims erkannte. Gerade fuhr ein zweites Auto vor. Max kümmerte sich nicht darum, sondern richtete seine volle Aufmerksamkeit auf Justin, der völlig aufgelöst war.
»Komm
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