Dunkles Erbe - Blut Der Finsternis
Prior seine eigene Familie umgebracht.
Erst, als sie alle tot waren, war er wieder zu Bewusstsein gekommen. Aber was war das für ein Bewusstsein? So schwere Schuld hatte er auf sich geladen, dass er glaubte, sie niemals begleichen zu können. Wie sehr müssen seine Frau und die Kinder gelitten haben, als sie den eigenen Vater als blutrünstige Bestie sahen. Dagegen war die Erinnerung an sein eigenes Leid unbedeutend.
Doch auch Dorian Priors Leid war groß. Sein körperlicher Schmerz war unermesslich gewesen, als die Teufel ihn an das Portal der kleinen Kirche genagelt hatten. Sie dachten, das Licht der Sonne würde ihn töten und die Eisennägel ihn halten, wenn sich ein Tor nach Melacar öffnete, um ihn vor dem Verbrennen zu retten. Anstatt in Flammen aufzugehen, hatte ihn jedoch der mächtige Sog des Tores von der Kirchentür losgerissen. Die fest ins Holz geschlagenen Nägel hatten seine Hände zerfetzt. Noch immer waren die knotig aufgeworfenen Narben sichtbar.
Vierhundert Jahre waren seither auf Erden vergangen. Für ihn, Dorian Prior, war jedoch nur ein Jahr verstrichen. Die Zeit in Melacar fließt anders als auf Erden. Eine Erkenntnis und nur eine von vielen, die ihm bei seiner Rückkehr einen gewaltigen Schock versetzt hatte. All die Veränderungen, von den Dämonen in die Köpfe der Menschen geflüstert, ließen die Erde zu einem weiteren Kreis des Orkus der Hölle werden.
Vierhundert Jahre, um genau zu sein, dreihundertsechsundsiebzig Jahre herrschte das Übel unbeachtet. Die Menschen bemerkten nicht einmal, was mit ihnen geschah. Doch heute Nacht wollte er seinen Teil dazu beitragen, die Welt von dieser Brut zu befreien.
Sorgfältig legte er die Eisenstangen zurück in seine Truhe und nahm erneut die kleine Fibel zur Hand. Ging sein Plan auf, würde seine ganz persönliche Leidenshistorie von jetzt an sehr bald enden. Wie Gott einst die sündigen, verbrecherischen Menschen mit der Sintflut heimsuchte, so wollte Prior die Hirudo mit seinem Schrecken bezwingen. Sein Schicksal verlangte grausame Rache und die sollten sie bekommen. Zwar würde seine Schuld dadurch nicht beglichen und ihre Sünden nicht ungeschehen gemacht. Aber sie erhielten ihre rechtmäßige Strafe und auch die war eine Art der Gerechtigkeit.
Seinen ganzen Hass in diese Geste legend, rammte er sich den spitzen Dorn der Fibel in die geöffnete Hand. Gebannt betrachtete er das Blut, das in dicken dunkelroten Tropfen aus der Wunde rann und schließlich von seinen Fingerspitzen auf den ohnehin besudelten Boden fiel.
Für jeden Tropfen, so schwor er, sollte ein ganzer Strom aus den gequälten Leibern jener Schuldigen fließen.
~ 5. Kapitel ~
In dem ein Geist erscheint und unerwarteter
Besuch eintrifft
Karen verwünschte den Tag oder vielmehr die Nacht, in der sie sich ausgerechnet dieses Zimmer für ihre Arbeit an der Fortsetzung von Golans Chronik der Hirudo ausgesucht hatte. Als ihr Vater sie eingeladen hatte, in das Haus der Hirudo zu ziehen, hatte Blanche ihr ein Zimmer angeboten, das warm und freundlich war. Doch Karen nutzte jenes lediglich als Schlafzimmer und, um dort ihre Kleider zu verwahren. Leben und ihrer neu entdeckten Aufgabe nachgehen, dem Schreiben der Chronik, wollte sie unter allen Umständen und ausgerechnet in Denis‘ Turm. Einen Entschluss, den sie jeden Winter aufs Neue bereute.
Der Raum war kalt. Elendig kalt und außerdem zog der Wind durch jede gottverdammte Ritze in dem miserabel isolierten Turm. Dagegen konnte selbst das Feuer, das in dem Kamin so viel versprechend prasselte, nicht das Geringste ausrichten. Zitternd zog sie die wollene Strickjacke enger um die schmalen Schultern.
Wie hatte sie damals nur glauben können, ausgerechnet in genau diesen Raum zu gehören? Denis, der das untere Turmzimmer als Atelier nutzte, erlaubte ihr gern, im oberen Zimmer Quartier zu nehmen. Der Turm schien ihr tatsächlich der beste Platz im ganzen Haus. Dieser Ort fühlte sich einfach richtig an. Er fühlte sich an, als könne sie nur hier die nötige Ruhe und Inspiration finden. Jetzt fühlte sie außer permanenter Gänsehaut kaum noch etwas. Denis hatte sie nicht gewarnt. Warum auch. Er war ein Vampir und wenn Karen eines in ihrem ersten Winter hier gelernt hatte, dann, dass Vampire eine enorm hohe Kältetoleranz besaßen. Die Einzige, die hier fror, war sie. Sie war jedes Mal geradezu dankbar, wenn sie zu Bett gehen konnte. Ihr Schlafzimmer war mit zwei großen Heizkörpern ausgestattet und in dem
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