Dunkles Erbe - Blut Der Finsternis
einem Stoßgebet, dass es Denis gab.
Jetzt wagte sie, weiter zu gehen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, damit sie nicht auch noch stolperte und sich den Hals brach. Unten in Denis‘ Atelier brannte der kleine Kronleuchter mit den elektrischen Lampen, den Denis in seiner geteilten Vorliebe für alles Antike und das Moderne angeschafft hatte. Das Halogenlicht erhellte das Zimmer bis in den letzten Winkel. Eilig sah sie sich um. Das Zimmer war leer und so als wäre nie etwas gewesen, war auch das Kribbeln im Nacken verschwunden. Niemand war mehr da.
Alles schien unberührt. Auf den ersten Blick konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Doch da! Ihr Blick blieb an der großen Leinwand hängen, an der Denis während der letzten Nächte gearbeitet hatte. Einen Meter breit und beinahe doppelt so hoch, nahm sie die eine Wand des Zimmers ganz für sich in Anspruch. Er hatte sie gegen zwei schwere Holzbalken gelehnt, da er keine so große Staffelei besaß.
Viel war noch nicht auf der gefärbten Fläche zu erkennen. Die Grundierung war aufgetragen und erste Umrisse des Motivs waren grob dargestellt. Ein schemenhaftes Gesicht, die geschwungene Linie der Schultern, und Arme, die sich ein wenig vom unvollständigen Rumpf der dargestellten Person abspreizten. Von den angedeuteten Hüften verliefen die flüchtig skizzierten Falten eines Rockes oder weiten Gewandes bis an den unteren Rand der Leinwand. Gemalt in stumpfem Grau auf dem dunklen Indigo-Ton der Grundfarbe. Karen brauchte eine Weile, um sich darüber klar zu werden, was sie an der Leinwand irritierte.
Denis war seit letzter Nacht nicht mehr hier gewesen, um weiterzumalen. Und letzte Nacht, als er ging, war da noch keine Skizze für ein Motiv. Karen war sicher, dass er seitdem nicht mehr hierher gekommen war. Schließlich saß sie selbst seit Sonnenuntergang oben. Sie hätte ihn gehört. Und letzte Nacht noch hatte er sich beschwert, nicht weitermalen zu können, weil die Farbe so lange zum Trocknen brauchte.
Was war also mit der Leinwand geschehen? Karen beschloss, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Ohne Angst konnte sie nun den Raum durchqueren. Wer immer noch vor wenigen Minuten hier gewesen war und seine Spuren auf der Grundierung hinterlassen hatte, war nun fort.
Misstrauisch näherte sich Karen dem Bild und streckte zögernd die Hand danach aus. Sie berührte nur ungern Gegenstände, von denen sie nicht wusste, wem sie gehörten oder wer sie zuletzt in Händen gehalten hatte. Mehr als einmal machte sie aufgrund ihrer mangelnden Vorsicht schlechte Erfahrungen. Das Talent, Gedanken, Emotionen und sogar lange zurückliegende Ereignisse über die Oberfläche eines Objektes zu spüren, stammte vermutlich von einem Vorfahren Lucas’. Er selbst verfügte nicht über diese Fähigkeit. Von ihm hatte Karen nur das Talent der Telepathie und das Beeinflussen toter Materie geerbt.
Vergangenes über Gegenstände zu spüren war die Fähigkeit, die ihr am meisten zu schaffen machte. Und niemand konnte ihr helfen, damit zurechtzukommen.
Wenn sie auf einen Gegenstand reagierte, empfand sie eine solche Berührung als reine, konzentrierte Aufnahme zahlreicher Informationen. Und das nicht etwa in geordneter Abfolge. Vielmehr brachen sämtliche Bilder und Gedanken, einer meterhohen Flutwelle gleich, über sie herein.
Doch diesmal musste sie das Risiko eingehen. Schließlich war jemand unangekündigt in dieses Haus gekommen. Sie musste unbedingt herausfinden, wer das war und vor allem wollte sie mehr über das Motiv dieses Eindringlings erfahren.
Sachte legte sie eine Fingerspitze nach der anderen auf die abgebildeten Schultern. Sie erwartete etwas Außergewöhnliches, doch nichts geschah. Irritiert wiederholte sie die Berührung. Wieder nichts. Enttäuscht zog sie die Hand zurück. Außer, dass ihr jetzt Farbe an den Fingern klebte und ihre Fingerabdrücke die Leinwand verunzierten, blieben ihre Bemühungen erfolglos.
Doch als sie ihre Finger an einem der ölbefleckten Tücher, mit denen Denis seine Pinsel reinigte, abwischte, bemerkte sie, dass nicht Farbe an ihren Fingerspitzen klebte, sondern Staub.
Verdutzt rieb sie Daumen und Zeigefinger aneinander. Tatsächlich, Staub. Aber wie kann das sein? dachte sie. Mit dem Zeigefinger tappte sie noch einmal auf das grundierte Leinen. Eine feine, pudrige Wolke rieselte zu Boden, als sie mit dem Fingernagel an der beinahe durchsichtigen Schicht kratzte. Doch wer oder was um alles in der Welt hatte mit Staub
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