Dunkles Erbe - Blut Der Finsternis
angrenzenden Badezimmer konnte sie sich gelegentlich ein wärmendes Vollbad gönnen. Warum konnte sie sich bloß nicht vorstellen, auch dort zu schreiben? Sie wusste keinen Grund dafür, nur, dass sie in jenem Raum keinen vernünftigen Satz zusammenbekam. Also war sie Winter um Winter kreativ, produzierte Seite um Seite, hauchte den vergänglichen Erinnerungen der Hirudo Ewigkeit ein, und fror dabei, anstatt gemütlich warm in ihrem zentralbeheizten Schlafzimmer zu sitzen. Vielleicht bist du aber auch einfach nur vollkommen meschugge, dachte sie und verzog den ebenmäßigen Mund zu einem zynischen Lächeln.
Auch in diesem Jahr hielt der Winter das Land fest im Griff. Karen sehnte sich nach England und seinen milden Wintern. Sogar fisseliges Regenwetter, bei dem sie früher schon zu erfrieren glaubte, wäre ihr jetzt um einiges angenehmer.
Schon den vierten Winter verbrachte sie in diesem alten zugigen Turm im Haus der Hirudo am Genfer See. Jedes Jahr schwor sie, für die kommende kalte Jahreszeit ihren Computer und die anderen Utensilien, die sie zum Arbeiten brauchte, mitsamt Schreibtisch in ihr anderes Zimmer zu bringen. Doch bestimmt kam auch nächstes Mal der Winter, ohne dass sie sich durchringen konnte, umzuziehen. Denn zwischen diesem und dem nächsten Winter lag der Sommer. Und der ließ sie mit Sicherheit die bitterkalten Nächte vergessen und würde sie mit der romantischen Schönheit, die er Denis‘ Turm verlieh, verführen.
Die eigene Torheit zu verwünschen war sinnlos. Der heutige Abend war gelaufen. Denn außer durchgefroren zu sein, wusste sie auch in der Geschichte, an der sie gerade schrieb, nicht mehr weiter. Seit einer halben Stunde versuchte sie sich zu erinnern, was Seamus ihr erzählt hatte, doch die Fragmente wollten sich einfach nicht zusammenfügen. Das hatte sie jetzt davon zu glauben, einige Stichworte würden als Notiz ausreichen. Karen Grant, lern endlich in ganzen Sätzen zu schreiben, du dumme Pute! schimpfte sie in Gedanken.
Das gleichmäßige Blinken des Cursors auf dem Computermonitor war nervtötend, und als der Monitor dieses Mal auf Stand-by schaltete, sprang sie auf. Sie wollte in den Salon, der im Erdgeschoss des Hauses gleich neben der Eingangshalle lag, um sich ein wenig aufzuwärmen. Fröstelnd tappte sie hinunter in Denis Zimmer. Auf halben Weg stoppte sie jedoch wie angewurzelt. Sie wusste, dass Denis heute Nacht nicht in seinem Atelier im unteren Teil des Turmes arbeitete. Er war mit Jarout, seinem Stiefbruder, unterwegs. Dennoch offenbarte sich ihr das bestimmte Gefühl eines Anwesenden als aufgeregtes Prickeln im Nacken. Jemand war dort unten. Jemand, den sie nicht kannte.
Jeden Bewohner des Hauses konnte sie an der vertrauten Aura identifizieren. Anwesenheit zu spüren, ohne denjenigen zu sehen, war eines der Talente, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Sie wusste damit umzugehen und darauf zu vertrauen.
Nervös strich sie sich eine Strähne ihres langen roten Haars aus der Stirn. Was sollte sie jetzt tun? Ihr Herz klopfte so schnell und laut, dass sie fürchtete, der Eindringling könnte sie hören. Zwar galt in diesem Haus, dass kein Hirudo eine Sterbliche angreifen durfte, doch wusste das auch jemand, der zum ersten Mal hier herkam? Außerdem war keinesfalls sicher, dass der Besuch eingeladen war.
Fieberhaft suchten ihre Gedanken nach den Mitgliedern der Familie. Dank der von ihrem Vater Lucas an sie vererbten Talente vermochte sie jeden von ihnen telepathisch zu erreichen.
Nach kurzer Suche fand Karen Galina und Seamus im großen Salon und Jarout, der offenbar von seinem Ausflug zurück war, in seinem Zimmer. Arweth war ebenfalls im Haus. Sie alle nutzten Karen nicht viel. Sie konnten ihre Gedanken nicht hören. Zu gut funktionierte ihre angewohnte Abwehr gegen fremde Zugriffe. Wo war Lucas? Oh, ausgerechnet heute war er nicht zu Hause. Ihn hätte sie durch ihre, für Notfälle wie diesen, gegenseitig verabredete Technik alarmieren können.
Denis! Wenn Jarout daheim war, musste auch Denis irgendwo sein. Sie traf ihn in der Küche bei Blanche. Erleichtert spürte Karen seine Gedanken, die ihr mitteilten, dass er schon auf dem Weg sei. Dank seiner schwach ausgeprägten und in der Welt der Vampire eher nutzlosen Talente war er der Einzige, dessen Geist ihr jederzeit und ohne viel Mühe zugänglich war. Wie oft hatte sie ihm gesagt, dass auch seine Art von großem Nutzen sein konnte. Heute war seine Schwäche ihre einzige Chance auf Hilfe und sie dankte in
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