Dunkles Indien
Minarett betrat, fährt plötzlich wild auf im Schlaf, wirft die Arme in die Höhe, murmelt etwas und fällt wieder zurück in seine alte Stellung. Eingelullt von dem Schnarchen der Turmkäuze - sie röcheln wie Menschen, die erdrosselt werden, - versinke ich in quälenden Halbschlaf; nur dunkel kommt mir zu Bewußtsein, daß es drei Uhr geschlagen hat und eine leise, kaum merkliche Kühle in der Luft liegt. In der Stadt unten herrscht vollkommene Ruhe, nur bisweilen unterbrochen vom Liebesgesang streunender Hunde. Sonst schwerer Schlaf überall.
Wochenlang, so will mir scheinen, dauert die Finsternis: der Mond ist untergegangen. Sogar die Hunde schweigen. Ich warte, bis die Dämmerung kommt, ehe ich heimgehen will. Abermals ein Geräusch schlurfender Füße. Der Morgenruf hebt an und meine Nachtwache ist vorüber. » Allah ho Akbar! Allah ho Akbar!« Der Osten färbt sich grau und gleich darauf safrangelb; der Morgenwind erhebt sich, als hätte ihn der Muezzin beschworen, und wie ein Mann steht die Stadt der furchtbaren Nächte auf von der Lagerstatt auf den Dächern der Häuser. Die Lider schwer vom Entbehren des Schlummers, schleiche ich mich aus dem Minarett über den Hofraum der Moschee auf den breiten Platz hinaus, wo die erwachten Schläfer aufgestanden sind, ihre Bettstätten aufzuräumen, und von der Morgenwasserpfeife reden. Die kurze Minute der Kühle ist vorbei und es ist wieder so heiß, wie zuvor.
»Möchte der Sahib die Freundlichkeit haben, ein wenig zur Seite zu treten?« »Weshalb? Was ist geschehen?« Auf Männerschultern wird ein Etwas herangetragen im Zwielicht, und ich weiche einen Schritt zurück. Die Leiche einer Frau wird zum Verbrennungsghaut hinabgeführt. Einer der Herumstehenden sagt: »Sie ist heute um Mitternacht an der Hitze gestorben.« Nicht nur eine Stadt der furchtbaren Nächte ist Lahore, auch eine Stadt des Todes.
»Der Pfad zum Lachenden Brunnen«
Nimmt man eine große Landkarte zur Hand, so findet man etwa fünfzehn Meilen oberhalb der Stelle, wo sich der Chenab-Fluß in den Indus ergießt, ein Dorf angegeben, das den Namen Chachuran trägt. Fünf Meilen westlich von Chachuran liegt der »Pfad zum Lachenden Brunnen« und die Behausung des Gosains oder Priesters von Arthi-goth. Er hat mir zwar den Pfad gezeigt, aber, daß ich die Geschichte erzählen kann, verdanke ich ihm wahrhaftig nicht.
Fünf Meilen westlich von Chachuran befindet sich ein Stück Land, drei bis vier Meilen breit im Quadrat und bestanden mit gefiedertem Dschungelgras, das sich in Silber verwandelt, wenn der Wind weht, und zehn bis zwanzig Fuß hoch wird. Im Herzen dieses Landstrichs haust der Gosain des »Pfades zum Lachenden Brunnen«. Die Dorfbewohner werfen mit Steinen nach ihm, wenn er sich bei Tag blicken läßt, obwohl er ein Priester ist; und dann rennt er zurück in die dichten hohen Halme wie ein schweifender Wolf. Er hat nur ein Auge und trägt zwischen den Brauen das Brandmal von zwei Kupfermünzen. Es heißt, er sei vor langer, langer Zeit von einem eingeborenen Fürsten gefoltert worden, aber er ist so alt, daß ihn dies Mißgeschick in den Tagen Rundjit Singhs betroffen haben muß. Was er zur Zeit besonders nötig zu haben scheint, ist - außer einer Galgenschlinge - der Zugriff der Britischen Regierung.
Damals stand das Dschungelgras schon hoch, und die Dorfbewohner von Chachuran erzählten mir, eine Herde Wildschweine hätte sich ins Arthi-goth begeben. Wiesen mit Dschungelgras zu betreten, ist immer eine mißliche Sache, aber ich tat es dennoch - einesteils, weil ich nichts von der Wildsaujagd verstand, und andererseits, weil es hieß, der große Eber der Herde trage fußlange Hauer. Es reizte mich, sie zu besitzen, um sie in spätern Jahren zeigen zu können und mich zu brüsten, sie mit eigener Hand erbeutet zu haben. Ich nahm eine Flinte und ging in den heißen, dichten Dschungel hinein, wähnend, nichts sei leichter, als eine Wildsau in einem Gebiet von zehn Quadratmeilen aufzuspüren. Mister Wardle, mein Terrier, ging mit, denn er war offenbar der festen Überzeugung, ich könnte auch nicht eine Stunde seinen Rat und Beistand entbehren. Ihm war's freilich leicht, zwischen den riesigen Halmen durchzuschlüpfen, ich jedoch mußte mir mit Gewalt einen Weg bahnen. Trotzdem sah ich mich schon nach zwanzig Minuten derart von der Außenwelt abgeschnitten, als befände ich mich mitten im Herzen von Zentralafrika. Ich merkte es erst, als ich bereits so müde geworden war, daß ich nur noch
Weitere Kostenlose Bücher