Dunkles Indien
er rebellisch: »Daß ein Afghane stiehlt, kann ich noch begreifen, denn es liegt in seiner Natur; aber daß er weint, kann ich nicht begreifen. Das macht die Sache noch schlimmer.«
Der Märchenbranntwein schien Dirkowitsch endlich besiegt zu haben, denn Dirkowitsch lag in seinem Sessel und starrte zur Decke empor. Dort war nichts Besonderes zu sehen, bis auf einen Schatten, der die Form eines kolossalen schwarzen Sarges hatte. Wahrscheinlich infolge irgendeiner Eigentümlichkeit in der Konstruktion des Speisesaals erschien er immer, wenn die Lichter angezündet wurden. Die Verdauung der Weißen Husaren störte sein Anblick nicht im geringsten. Im Gegenteil: Sie waren stolz auf ihn.
»Ob er wohl die ganze Nacht so weinen wird?« meinte der Oberst. »Oder sollen wir mit dem kleinen Mildred als Gast aufbleiben, bis es ihm wieder besser geht?«
Der Mann im Sessel erhob mit einemmal den Kopf und starrte die Versammlung an. »Oh, mein Gott!« sagte er. Sogleich sprang alles auf. Der Lushkar-Kapitän aber tat etwas, wofür ihm das Viktoriakreuz gebührt hätte als Auszeichnung für Tapferkeit im Kampf gegen überwältigende Neugier: Er gab seinen Leuten ein Zeichen mit den Augen, wie eine Hauswirtin es ihren Damen gegenüber in schicklichen Momenten zu geben pflegt, und führte sie nach den wenigen an den Obersten gerichteten Worten: »Dies ist nicht unsere Angelegenheit, Sir!« hinaus auf die Veranda und in die Gärten. -Hira Singh war der letzte, der den Saal verließ; er warf nur noch einen Blick auf den Russen. Dirkowitsch bemerkte es nicht; er war ins Schnapsparadies eingegangen und studierte noch immer den Sarg an der Decke, lautlos dabei die Lippen bewegend.
»Ein Weißer bis in die Knochen«, sagte Basset-Holmer, der Adjutant. »Was für ein heilloser Renegat das sein muß! Möchte gern wissen, wo er herkommt.«
Der Oberst schüttelte den Mann leicht am Arm und fragte: »Wer sind Sie?«
Keine Antwort. Der Mann starrte im Saal umher und lächelte dann dem Obersten ins Gesicht. Der kleine Mildred, der stets mehr Weib als Mann war, solange nicht der Ruf erscholl: »Mannschaft! Aufgesessen!« wiederholte die Frage in einem Ton, der einen Geyser zu Vertraulichkeiten hätte verleiten müssen, aber das Lumpenbündel lächelte nur.
Dirkowitsch benützte die Gelegenheit, sanft von seinem Sessel herab auf den Fußboden zu gleiten; kein Adamsohn kann auf dieser unvollkommenen Welt den Champagner der Weißen Husaren flaschenweise mit ihrem Märchenbranntwein gemischt durcheinander trinken, ohne an die Grube gemahnt zu werden, der er einst entstiegen und in die er wieder zurückkehren wird! Die Musikkapelle stimmte in diesem Augenblick die Melodie an, mit der die Weißen Husaren seit Gründung des Regimentes alle ihre Festlichkeiten zu beschließen pflegten; lieber hätten sie sich pensionieren lassen, als auf sie verzichtet. Als die Weise ertönte, erhob der Mann den Kopf und begann im Takt mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln.
»Eigentlich sehe ich nicht ein, warum wir Wahnsinnige unterhalten sollen«, meinte der Oberst. »Rufen Sie eine Wache, damit er in eine Zelle gesteckt wird. Wir wollen die Angelegenheit morgen untersuchen. Aber geben Sie ihm vorher noch ein Glas Wein.«
Der kleine Mildred füllte ein Sherryglas mit Brandy und schob es dem Manne hin. Er trank. Die Musik spielte lauter. Er richtete sich stramm auf. Dann streckte er seine krallenartigen Finger nach einem silbernen Tafelgerät aus und streichelte es zärtlich. Darin war eine Feder verborgen, gewissermaßen ein Geheimnis. Wenn man darauf drückte, wurde aus dem Ding eine Art speicherförmiger Kandelaber. Der Mann fand die Feder, drückte darauf und lachte leise. Dann stand er auf, betrachtete ein Bild an der Wand, dann das nächste, während die Offiziere ihn schweigend beobachteten. Als er beim Kaminsims angekommen war, schüttelte er den Kopf und schien enttäuscht. Ein Aufsatz aus Silber, einen Husaren in voller Uniform zu Pferd darstellend, fesselte seine Aufmerksamkeit; er deutete mit fragender Miene darauf und dann wieder auf das Kaminsims.
»Was er wohl damit meinen mag?« sagte der kleine Mildred und erklärte ihm gleich darauf mit einem Ton, so herzensgut, wie etwa eine Mutter zu ihrem Kinde sprechen würde: »Ein Pferd ist es, schau nur: ein Pferd!«
Und langsam kam die Antwort zurück - in halbersticktem, leidenschaftslosem Gurgelton: »Ja – ich - hab's gesehen. - Aber - wo - ist dieses Pferd?«
Man hätte die Herzen
Weitere Kostenlose Bücher