Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkles Verhaengnis

Dunkles Verhaengnis

Titel: Dunkles Verhaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
Vom Netzwerk:
erzählte mir von einer Konferenz, an der sie teilgenommen hatte. Es ging um die Frage: »Was ist normal?«, mit Experten von überallher, die Vorträge hielten mit Titeln wie »Identität und Individuation«, »Der Gesellschaftsvertragsschwindel« oder »Tun, als wäre man ein Mensch« oder »Der Mann, der auf
die Erde fiel und sofort wieder nach oben zurückkehrte«. Allerhand schräge Vögel lungerten im Hotel herum, sagte sie, und die schrägsten unter ihnen hielten die Vorträge.
    »Vermisst du es?«, fragte sie, als die Kellnerin, eine anämisch aussehende Frau um die dreißig, ganz in rosa gekleidet, unsere Kaffeetassen nachfüllte.
    »Warum sollte ich?«
    »Ich meine nicht Betrieb und so. Aber die Patienten. Die vielen unterschiedlichen Menschen, mit denen man redet, die man kennenlernt.«
    »Ich bin nicht sicher, ob ich sie tatsächlich kennengelernt habe. Es läuft doch sehr auf ein bloßes Frage-Antwort-Spiel hinaus –«
    »Wenn man weiß, worauf man zu achten hat, erfährt man aber, was man erfahren will.«
    »Genau. Und die Kehrseite der Medaille ist, dass die Patienten genau wissen, was man von ihnen erwartet, dass sie sagen sollen. Die Klügeren kapieren es sofort, die anderen brauchen etwas länger. Aber früher oder später begreifen es alle.«
    Sie schenkte Milch in ihren Kaffee, was sie bei den ersten beiden Tassen nicht getan hatte, und beobachtete gedankenverloren, wie sie Flocken bildete. Ich gab der Kellnerin ein Zeichen, die daraufhin ein weiteres dieser kleinen Edelstahlkännchen brachte, die
gleiche Sorte, die auch für den Pfannkuchensirup verwendet wurde.
    »Vielleicht komme ich auch noch an diesen Punkt«, sagte Tracy. »Immerhin hast du versucht, mich vor der Sozialarbeit zu warnen.«
    »Und wie die meisten Warnungen –«
    »Genau. Aber vorläufig gefällt es mir, was ich mache. Ich steh dazu.«
    Abgesehen von der psychologischen Beratung arbeitete sie mit verhaltensauffälligen Kindern. »Notleidende Jugendliche«, hatte sie gesagt. »Klingt nach Andy Griffith Show, Kinder, die sich im Gemeindehaus treffen, Kuchen essen und davon erzählen, dass niemand sie mag. Tatsächlich reden wir hier über Kids, die die Haustiere der Familie quälen und töten, Eltern im Keller einschließen, das Haus anzünden. Ich hatte letzten Monat einen solchen Fall. Dreizehn. Eine Ritzerin. Habe eine Stunde vergeblich versucht, dass sie etwas sagt – nicht, dass es eine große Überraschung gewesen wäre. Als sie dann aber aufsteht, um zu gehen, sagt sie: »Was soll das Affentheater? Ist bloß ’ne Möse, mehr nicht. Ich mach nur die Beine breit.«
    Tracy hatte eine Warnung für mich, weil ich mir mal wieder überall Feinde machte. Zunächst mal Sergeant Christopher Van Zandt, ein dermaßen
durch und durch inkompetenter Mann, dass man eigens eine neue Position geschaffen hatte …
    »Wo er keinen Schaden anrichten kann?«, wagte ich zu äußern.
    »Wo er der Dienststelle nicht im Weg ist.«
    Er sei, sagte sie, auch weiterhin der für Fortbildung und Information zuständige Beamte.
    »Und wessen Neffe?«
    »Da sind wir nicht ganz sicher. Aber er ist ein Mann, der sich gern selber reden hört, und bislang ist noch kein Thema angeschnitten worden, seien es sommergrüne Bäume oder polynesische Tänze, über das er nicht alles wusste, was es zu wissen gab.«
    »Ich glaube, wir sind uns mal begegnet.«
    »Davon bin ich überzeugt.« Sie lächelte. »Viele Male.«
    Wie ich schon sagte, manchmal kann man einfach nicht anders. Bei meiner Bemerkung über das Management verschärfte sich Van Zandts Ausdrucksweise, jede Menge Bs explodierten vor seinen Lippen, abgehackte Ts klangen wie mit der Schere gestutzt. Komplexe Sätze, Nebensätze, dramatische Kunstpausen – das volle Programm.
    Nachdem wir den Wortschwall überlebt hatten, ganz zu schweigen von der feuchten Aussprache, wurden wir an jemanden weitergereicht, der tatsächlich
etwas wusste. Also, zumindest über die Sachlage.
    »Ich vermute, wir werden uns nicht wiedersehen«, sagte Sergeant Van Zandt am Ende, um klarzustellen, dass wir fertig waren. Er stand auf und streckte die Hand aus. »War mir ein Vergnügen.«
    Ich sah ihn aufmerksam an. Zwei Seelen wohnten da in einer Brust, aber die eine wusste von der anderen nichts.
    Wir fanden George Gibbs im Pausenraum. Er starrte in seinen Kaffeebecher, als würde alles offenbar werden, wenn erst der Becherboden zum Vorschein käme. In regelmäßigen Abständen kamen verschwitzte Polizeibeamte aus dem

Weitere Kostenlose Bücher