Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
hat. Sondern weil er
physisch
kräftiger und zäher war als alle Tiere, und später dann, weil er seine geistige Seite erfolgreich dazu nutzte, der physischen Seite zu dienen.
Über all das dachte ich in dieser Schürfgrube zum hundertsten Mal nach. Ich wußte, daß ich mich nicht umbringen würde, weil ich diese Lebenskraft in mir geprüft hatte. In einer ebensolchen, aber tiefen Schürfgrube hatte ich kürzlich einen riesigen Stein ausgehackt. Viele Tage lang legte ich behutsam seine gewaltige Schwere frei. Aus dieser üblen Schwere wollte ich, mit den Worten des russischen Dichters , etwas Schönes schaffen. Ich wollte mein Leben retten, indem ich mir das Bein brach. Das war wahrhaftig eine schöne Absicht, ein vollkommen ästhetisches Ereignis. Der Stein sollte niederstürzen und mir das Bein zerschmettern. Und ich wäre für immer Invalide! Dieser leidenschaftliche Traum beruhte auf einem Kalkül, und ich hatte den Platz genau bestimmt, wohin ich den Fuß setzen, ich stellte mir vor, wie ich eine leichte Bewegung mit der Hacke machen würde — und der Stein stürzt herab. Tag, Stunde und Minute waren festgesetzt und gekommen. Ich stellte den rechten Fuß unter den ruhenden Stein, lobte mich für meine Gelassenheit, hob die Hand und legte den Hebel, die unter den Stein geklemmte Hacke, um. Und der Stein rutschte an der Wand hinunter an die vorgesehene und errechnete Stelle. Doch ich weiß selbst nicht, wie es geschah — ich zog den Fuß weg. In der engen Grube quetschte ich mir das Bein. Zwei blaue Flecken, drei Schrammen — das war das ganze Ergebnis der so gut geplanten Aktion.
Und ich begriff, daß ich weder zum Selbstverstümmler noch zum Selbstmörder tauge. Mir blieb nur zu warten, bis das kleine Unglück abgelöst wird durch ein kleines Glück, bis das große Unglück sich erschöpft. Das nächste Glück war das Ende des Arbeitstags, drei Schluck heiße Suppe — selbst wenn die Suppe kalt sein sollte, konnte ich sie auf dem Kanonenofen wärmen, das Kochgeschirr, eine Dreiliter-Konservendose, hatte ich. Um eine Zigarette, vielmehr eine Kippe, würde ich unseren Barackendienst Stepan bitten.
Und so, »Sternen«fragen und Bagatellen in meinem Kopf vermischend, wartete ich, durchweicht bis auf die Haut, doch gelassen. Waren diese Betrachtungen eine Art Hirntraining? Auf keinen Fall. All das war nur natürlich, es war das Leben. Mir war klar, daß der Körper und folglich auch die Hirnzellen unzureichende Nahrung erhielten, daß mein Hirn schon lange auf Hungerration war und daß die Folgen unweigerlich Irrsinn, eine frühe Sklerose oder irgend etwas anderes wären... Und ich wurde fröhlich bei dem Gedanken, daß ich so lange nicht leben, die Sklerose nicht erleben werde. Es regnete.
Ich dachte an die Frau, die gestern auf dem Pfad an uns vorbeigegangen war, ohne auf die Zurufe der Begleitposten zu achten. Wir grüßten sie, und sie erschien uns als Schönheit — die erste Frau, die wir in drei Jahren sahen. Sie winkte uns zu, zeigte auf den Himmel, in irgendeinen Winkel des Himmelsgewölbes, und rief: »Bald, ihr Jungs, bald!« Ein Freudengeheul war die Antwort. Ich habe sie niemals wiedergesehen, doch mein Leben lang an sie gedacht — wie sie uns so verstehen und so trösten konnte. Sie wies auf den Himmel und meinte keineswegs das Jenseits. Nein, sie zeigte nur, daß sich die unsichtbare Sonne gen Westen neigte, daß das Ende des Arbeitstags nah war. Auf ihre Weise wiederholte sie uns Goethes Worte über die Wipfel . An die Weisheit dieser einfachen Frau, einer Prostituierten oder ehemaligen Prostituierten – denn außer Prostituierten gab es damals in diesen Gegenden keine Frauen –, an diese Weisheit und an ihr großes Herz also dachte ich, und das Geräusch des Regens war für diese Gedanken eine gute Kulisse. Das graue Steinufer, graue Berge, grauer Regen, grauer Himmel, die Menschen in zerrissener grauer Kleidung, alles war sehr weich, sehr im Einklang miteinander. Alles war eine einzige farbliche Harmonie — eine teuflische Harmonie.
Und in diesem Moment ertönte ein schwacher Schrei aus der Nebengrube. Mein Nachbar war ein gewisser Rosowskij, ein älterer Agronom, dessen bedeutendes Fachwissen, genauso wie das Wissen von Ärzten, Ingenieuren, Ökonomen, hier keine Anwendung finden konnte. Er rief meinen Namen, und ich antwortete ihm, ohne Rücksicht auf die drohende Geste des Begleitpostens — aus der Ferne, unter dem Pilz hervor.
»Hören Sie«, rief er, »hören Sie! Ich habe lange
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