Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
alles, wir wollten hier so lang wie möglich bleiben, wir fürchteten uns vor den Goldminen. Doch die Stapel wuchsen zu langsam, und gegen Ende des zweiten angestrengten Tages war klar, wir hatten zu wenig geschafft und würden mehr nicht schaffen können. Iwan Iwanowitsch stellte ein Metermaß her, indem er die fünf Handspannen an einer gefällten jungen zehnjährigen Lärche abmaß.
Abends kam der Vorarbeiter, maß unsere Arbeit mit seinem gekerbten Stab und schüttelte den Kopf. Wir hatten zehn Prozent der Norm geschafft!
Iwan Iwanowitsch versuchte zu argumentieren und etwas auszumessen, doch der Vorarbeiter war unbeirrbar. Er brummte etwas von irgendwelchen »Festmetern«, von massivem Holz — all das überstieg unser Verständnis. Klar war eins: wir werden zurückgeschickt in die Lagerzone, treten wieder ein durch das Tor mit der obligatorischen, offiziellen, bürokratischen Aufschrift »Die Arbeit ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums«. Es heißt, an den Toren der deutschen Lager stehe ein Nietzsche-Zitat: »Jedem das Seine«. Berija ahmte Hitler nach und übertraf ihn an Zynismus.
Das Lager war der Ort, wo man den Menschen beibrachte, die physische Arbeit zu hassen, die Arbeit überhaupt zu hassen. Die privilegierteste Gruppe der Lagerbewohner waren die Ganoven — war denn für sie die Arbeit Tapferkeit und Heldentum?
Doch wir hatten keine Angst. Mehr noch, die Bestätigung der Hoffnungslosigkeit unserer Arbeit, des Ungenügens unserer physischen Qualitäten durch den Vorarbeiter brachte uns unerhörte Erleichterung und kränkte und schreckte uns nicht im mindesten.
Wir ließen uns treiben und »liefen auf Grund«, wie es in der Lagersprache heißt. Uns regte schon nichts mehr auf, es fiel uns leicht, in der Macht eines fremden Willens zu leben. Wir waren nicht einmal darum besorgt, unser Leben zu erhalten, und selbst wenn wir schliefen, dann taten wir das auf Befehl, nach dem Reglement des Lagertages. Unsere Seelenruhe, mit der Abstumpfung unserer Gefühle erkauft, glich der »höchsten Freiheit der Kaserne«, von der Lawrence träumte, oder der Tolstojschen Nichtwidersetzung gegen das Böse — immer bewachte ein fremder Wille unsere Seelenruhe.
Wir waren längst Fatalisten geworden, wir planten unser Leben nicht weiter als einen Tag im voraus. Logisch wäre gewesen, alle Lebensmittel auf einmal zu essen und zurückzulaufen, die festgelegte Zeit im Karzer abzusitzen und dann zur Arbeit in die Mine zu gehen, doch auch das taten wir nicht. Jede Einmischung in das Schicksal, in den Willen der Götter war anstößig, widersprach dem Verhaltenskodex des Lagers.
Der Vorarbeiter ging, und wir blieben und schlugen die Schneise, schichteten neue Stapel auf, doch schon mit größerer Ruhe, mit größerer Gleichgültigkeit. Jetzt stritten wir schon nicht mehr, wer das Stammende und wer die Krone übernimmt beim Transport auf die Stapel — bei der Rükkung, wie das in der Forstwirtschaft heißt.
Wir ruhten uns mehr aus, achteten mehr auf die Sonne, auf den Wald, auf den blaßblauen hohen Himmel. Wir lagen auf der faulen Haut.
Am Morgen hatten Saweljew und ich mit Müh und Not eine riesige schwarze Lärche gefällt, die durch ein Wunder Sturm und Feuer überstanden hatte. Wir warfen die Säge einfach ins Gras, die Säge klirrte gegen die Steine, und setzten uns auf den Stamm des gefällten Baums.
»So«, sagte Saweljew »Träumen wir ein bißchen. Wir werden überleben, fahren zurück aufs Festland, dort werden wir schnell alt und haben tausend Krankheiten: mal sticht das Herz, mal läßt uns das Rheuma keine Ruhe, mal schmerzt es in der Brust; alles, was wir heute tun, wie wir in jungen Jahren leben — die schlaflosen Nächte, der Hunger, die schwere vielstündige Arbeit, die Goldgewinnung im eisigen Wasser, die Kälte im Winter, die Schläge der Begleitposten — all das hinterläßt seine Spuren, selbst wenn wir überleben. Wir werden krank sein und nicht wissen, warum, ächzen und durch die Ambulatorien ziehen. Die über unsere Kräfte gehende Arbeit hat uns bleibende Wunden zugefügt, und unser ganzes Leben im Alter wird ein Leben des Schmerzes sein, eines unendlichen und vielfältigen physischen und seelischen Schmerzes. Doch unter diesen schrecklichen künftigen Tagen wird es auch einmal Tage geben, wo wir leichter atmen, wo wir fast gesund sind und unsere Leiden uns nicht plagen. Solche Tage wird es nicht viele geben. So viele, wie es jeder von uns
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