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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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erschreckte ihn zutiefst. Moissej Mojssejewitsch dachte, es sei ein Wolf, und rannte zurück, mit den Stiefeln über den Pfad patschend, und die anderen folgten ihm.
    Doch der Wolf legte sich auf den Bauch und kroch schwanzwedelnd auf die Menschen zu. Sie streichelten ihn, tätschelten ihm die mageren Flanken und fütterten ihn.
    Die Hündin blieb bei uns. Bald wurde klar, warum sie es nicht riskiert hatte, in der Tajga nach ihren wahren Herren zu suchen.
    Sie sollte bald werfen — gleich am ersten Abend begann sie am Zelt eine Grube zu graben, eilig, ohne sich groß mit Begrüßungen abzulenken. Jeder der fünfzig Mann wollte sie streicheln, liebkosen und dem Tier die eigene Sehnsucht nach Liebkosung mitteilen, weitergeben.
    Der Einsatzleiter Kassajew, ein dreißigjähriger Geologe, der vor kurzem sein Zehnjähriges im Hohen Norden begangen hatte, trat heraus, klimperte weiter auf der unvermeidlichen Gitarre und betrachtete unseren neuen Bewohner.
    »Kämpfer soll er heißen«, sagte der Einsatzleiter.
    »Das ist eine Hündin, Walentin Iwanowitsch«, sagte freudig Slawka Ganuschkin, der Koch.
    »Eine Hündin? Ach ja. Dann soll sie Tamara heißen.« Und der Einsatzleiter entfernte sich.
    Der Hund lächelte ihm nach und wedelte mit dem Schwanz. Er hatte schnell zu allen wichtigen Leuten gute Beziehungen hergestellt. Tamara verstand die Rolle Kassajews und des Vorarbeiters Wassilenko in unserer Siedlung, sie verstand die Bedeutung der Freundschaft mit dem Koch. Für die Nacht suchte sie sich einen Platz neben dem Nachtwächter.
    Bald wurde klar, daß Tamara Futter nur aus der Hand annahm und weder in der Küche noch im Zelt etwas anrührte, ob Leute dort waren oder nicht.
    Diese sittliche Festigkeit rührte die vielerfahrenen und leidgeprüften Bewohner der Siedlung besonders.
    Sie legten Tamara eingewecktes Fleisch und Brot mit Butter auf den Boden. Der Hund beroch den Proviant, wählte und trug immer ein und dasselbe davon — ein Stück gesalzenen Ketalachs, das vertrauteste, das leckerste, das ganz bestimmt ungefährliche.
    Bald warf die Hündin, sechs kleine Welpen lagen in der dunklen Grube. Wir bauten den Welpen eine Hütte und trugen sie hin. Tamara regte sich lange auf, winselte, wedelte mit dem Schwanz, aber augenscheinlich war alles in Ordnung, die Welpen waren heil.
    Zu dieser Zeit mußten die Schürftrupps etwa drei Kilometer weiter in die Berge verlegt werden, fort von der Basis, wo die Lagerhäuser, die Küche und die Leitung waren, die Unterkünfte lagen sieben Kilometer entfernt. Die Hundehütte mit den Welpen kam mit an den neuen Ort, und Tamara lief zwei-, dreimal am Tag zum Koch und schleppte den Welpen in den Zähnen irgendeinen Knochen herbei, den der Koch ihr gab. Die Welpen wären auch so gefüttert worden, doch Tamara war davon niemals überzeugt.
    In dieser Zeit erschien in unserer Siedlung der Schitrupp einer »Operativgruppe«, die die Tajga nach Entlaufenen absuchte. Flucht im Winter ist extrem selten, doch es gab Informationen, daß im Nachbarbergwerk fünf Häftlinge geflohen waren, und man durchkämmte die Tajga.
    In der Siedlung teilte man dem Schitrupp nicht ein Zelt zu wie das, in dem wir wohnten, sondern das einzige Blockhaus der Siedlung, das Badehaus. Die Mission der Schiläufer war zu ernst, als daß dies bei irgend jemandem auf Protest hätte stoßen dürfen, wie uns der Einsatzleiter Kassajew erklärte.
    Die Bewohner begegneten den ungebetenen Gästen mit der gewohnten Gleichgültigkeit und Ergebenheit. Nur ein Geschöpf drückte seinen heftigen Unwillen aus.
    Die Hündin Tamara stürzte sich stumm auf den nächsten Wachsoldaten und durchbiß ihm den Filzstiefel. Tamara sträubte sich das Fell, und ein furchtloser Haß stand ihr in den Augen. Der Hund konnte mit Mühe verjagt und ferngehalten werden.
    Der Chef der »Operativgruppe« Nasarow, von dem wir schon früher einiges gehört hatten, wollte schon nach der Maschinenpistole greifen, um den Hund zu erschießen, doch Kassajew hielt ihn am Arm zurück und zog ihn mit ins Badehaus.
    Auf Rat des Zimmermanns Semjon Parmenow legte man Tamara ein Schleppseil um und band sie an einen Baum — die »Operativgruppe« würde ja nicht ewig bleiben.
    Bellen konnte Tamara nicht, wie jeder Jakutenhund. Sie knurrte, die alten Eckzähne versuchten das Seil zu durchbeißen — das war gar nicht mehr jene friedliche Jakutenhündin, die mit uns den Winter verbracht hatte. Ihr Haß war ungewöhnlich, und hinter diesem Haß kam die Vergangenheit

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