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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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zwar nicht, wahrscheinlich weiß sie die Adresse nicht. Ich habe ihr viel geschrieben und schreibe ihr immer noch. Nur ihr. Ich zeige diese Photographie niemandem. Ich habe sie von zu Hause mitgebracht. Vor sechs Jahren habe ich sie von der Kommode genommen.«
    Paramonow war lautlos in die Werkstatt eingetreten.
    »Deine Tochter?«, fragte er nach einem schnellen Blick auf die Photographie.
    »Ja, Bürger Natschalnik«, sagte Frisorger lächelnd.
    »Schreibt sie?«
    »Nein.«
    »Warum hat sie denn ihren alten Vater vergessen? Schreib mir ein Nachforschungsgesuch, ich schicke es ab. Wie geht’s deinem Fuß?«
    »Ich hinke, Bürger Natschalnik.«
    »Na, hink nur, hink.« Paramonow ging raus.
    Von da an holte Frisorger, ohne Scheu vor mir, nach dem Abendgebet und schon auf der Pritsche liegend, die Photographie seiner Tochter hervor und streichelte den farbigen Rahmen.
    So lebten wir friedlich etwa ein halbes Jahr, bis einmal die Post gebracht wurde. Paramonow war unterwegs, und die Post nahm sein Sekretär, der Häftling Rjasanow entgegen, der sich keineswegs als Agronom, sondern als Esperantist erwiesen hatte, was ihn übrigens nicht daran hinderte, verendeten Pferden geschickt die Haut abzuziehen, dicke Eisenrohre zu biegen, indem er sie mit Sand füllte und am Feuer zum Glühen brachte, und das gesamte Büro seines Chefs zu führen.
    »Schau mal«, sagte er mir, »was hier auf den Namen Frisorger angekommen ist.«
    Der Umschlag enthielt ein formales Schreiben mit der Bitte, den Häftling Frisorger (Artikel, Haftdauer) mit der Erklärung seiner Tochter bekannt zu machen, deren Kopie beilag. In dieser Erklärung schrieb sie kurz und klar, sie sei zu der Überzeugung gelangt, daß ihr Vater ein Volksfeind sei, darum sage sie sich von ihm los und ersuche darum, die Verwandtschaft als nicht bestehend zu betrachten.
    Rjasanow drehte das Schriftstück in den Händen.
    »So eine Gemeinheit«, sagte er. »Wozu braucht sie das? Will sie in die Partei eintreten?«
    Ich dachte an etwas anderes: wozu einem inhaftierten Vater solche Erklärungen weiterschicken? Ist das eine Art besonderer Sadismus, wie die Benachrichtigungen von Verwandten nach dem angeblichen Tod des Häftlings, oder einfach der Wunsch, alles nach Vorschrift zu machen? Oder noch etwas anderes?
    »Hör zu, Wanjuschka«, sagte ich Rjasanow »Hast du die Post registriert?«
    »Wie denn, sie ist gerade erst gekommen.«
    »Gib mir doch den Umschlag.« Und ich erzählte Rjasanow, worum es ging.
    »Und der Brief?«, sagte er unsicher. »Sie wird ihm wahrscheinlich auch schreiben.«
    »Den Brief hältst du auch zurück.«
    »Hier, nimm.«
    Ich zerknüllte den Umschlag und warf ihn in die offene Tür des brennenden Ofens.
    Einen Monat später kam auch ein Brief, ebenso kurz wie die Erklärung, und wir verbrannten ihn im selben Ofen.
    Bald wurde ich irgendwohin verlegt, und Frisorger blieb, und wie es ihm weiter erging, weiß ich nicht. Ich dachte oft an ihn, solange ich die Kräfte dazu hatte. Ich hörte sein zittriges, bewegtes Flüstern: »Petrus, Paulus, Markus...«
    ‹1954›

Beeren
    Fadejew sagte: »Warte, ich rede selbst mit ihm«, er kam zu mir und setzte den Gewehrkolben neben meinem Kopf auf.
    Ich lag im Schnee, den Holzstamm im Arm, der mir von der Schulter gerutscht war, und war außerstande, ihn aufzuheben und meinen Platz in der Kolonne von Leuten einzunehmen, die den Berg hinabstiegen, jeder trug auf der Schulter einen Holzstamm, einen »Knüppel Brennholz«, mal größer, mal kleiner: alle hatten es eilig, nach Hause zu kommen, Begleitposten wie Häftlinge, alle hatten Hunger, waren müde, waren den endlosen Wintertag mehr als leid. Und ich — lag im Schnee.
    Fadejew sprach die Häftlinge immer mit »Sie« an.
    »Hören Sie, Alter«, sagte er, »das kann nicht sein, daß ein Kerl wie Sie so ein Scheit nicht tragen kann, so ein Stöckchen, kann man sagen. Sie sind eindeutig ein Simulant. Ein Faschist. In einer Zeit, wo unsere Heimat gegen den Feind kämpft, werfen Sie ihr Knüppel zwischen die Beine.«
    »Ich bin kein Faschist«, sagte ich, »ich bin ein kranker und hungriger Mensch. Der Faschist bist du. Du liest in den Zeitungen, wie die Faschisten alte Leute umbringen. Überleg mal, wie willst du deiner Braut erzählen, was du an der Kolyma gemacht hast.«
    Mir war alles egal. Ich konnte die Rotwangigen, Kräftigen, Satten und gut Gekleideten nicht ertragen, ich hatte keine Angst. Ich krümmte mich, um den Bauch zu schützen, aber auch das war eine

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