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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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wieder hoch: die Hündin begegnete dem Begleitkommando nicht zum ersten Mal, das war offensichtlich.
    Was für eine Waldtragödie hatte sich ihrem Hundegedächtnis für immer eingeprägt? War diese schreckliche Vergangenheit der Grund für das Auftauchen der Jakutenhündin in der Tajga unweit unserer Siedlung?
    Nasarow hätte wahrscheinlich einiges erzählen können, wenn er sich nicht nur an Menschen, sondern auch an Tiere erinnert hätte.
    Nach etwa fünf Tagen verließen uns drei der Schifahrer, und Nasarow samt seinem Freund und unser Einsatzleiter wollten am folgenden Morgen aufbrechen. Sie tranken die ganze Nacht, bei Tagesanbruch nahmen sie einen gegen den Rausch und fuhren los.
    Tamara knurrte, und da machte Nasarow kehrt, riß die Maschinenpistole von der Schulter und feuerte aus nächster Nähe eine Patronensalve auf den Hund. Tamara zuckte und war still. Doch auf den Schuß kamen sofort Leute mit Äxten und Brechstangen aus den Zelten gerannt. Der Einsatzleiter warf sich den Arbeitern in den Weg, und Nasarow verschwand im Wald.
    Manchmal werden Wünsche wahr, und vielleicht war der Haß aller fünfzig Mann auf diesen Chef so leidenschaftlich und groß, daß er zur realen Kraft wurde und Nasarow einholte.
    Nasarow und sein Gehilfe fuhren zu zweit auf den Schiern los. Sie folgten nicht dem Bett des vollkommen zugefrorenen Flusses, im Winter der beste Weg bis zur großen Chaussee zwanzig Kilometer von unserer Siedlung entfernt, sondern der Bergroute über den Paß. Nasarow fürchtete sich vor Verfolgung, außerdem war der Weg über die Berge kürzer, und er war ein ausgezeichneter Schiläufer.
    Das Licht nahm schon ab, als sie den Paß erreichten, nur auf den Berggipfeln war es noch Tag, die tiefen Bergschluchten waren dunkel. Nasarow fuhr los, querfeldein, der Wald wurde dichter. Nasarow begriff, daß er anhalten mußte, doch die Schier rissen ihn mit, und er prallte gegen den hohen, mit der Zeit spitz gewordenen Stumpf einer gestürzten Lärche, die unter dem Schnee verborgen lag. Der Stumpf zerfetzte Nasarows Mantel und bohrte sich durch Bauch und Rücken. Der zweite Soldat war auf seinen Schiern schon weit voraus, er erreichte die Chaussee und schlug erst am nächsten Tag Alarm. Man fand Nasarow zwei Tage später, er hing auf dem Baumstumpf, erstarrt in der Bewegung, in der Pose des Läufers, wie eine Figur aus einem Schlachtdiorama.
    Sie zogen Tamara das Fell ab und spannten es mit Nägeln an die Wand des Pferdestalls, doch sie spannten es schlecht — das getrocknete Fell war ganz klein, und man hätte nie gedacht, daß es einem großen jakutischen Polarzughund gepaßt hat.
    Bald darauf kam der Förster und stellte nachträglich Anweisung aus für Fällungen, die mehr als ein Jahr zurücklagen. Beim Schlagen der Bäume hatte niemand an die Länge der Stümpfe gedacht, die Stumpfhöhe lag über der Norm — es mußte nachgearbeitet werden. Diese Arbeit war leicht. Der Förster durfte im Laden etwas kaufen, man gab ihm Geld und Alkohol. Als er fuhr, bat er um das Hundefell, das im Pferdestall an der Wand hing — er wird es gerben und sich Fäustlinge machen lassen, wie man sie im Norden trägt — Hundehandschuhe mit dem Pelz nach außen. Die Einschußlöcher im Fell, so der Förster, hätten keine Bedeutung.
    1959

Cherry Brandy
    Der Dichter lag im Sterben. Die großen, vom Hunger angeschwollenen Hände mit den weißen blutleeren Fingern und den schmutzigen, röhrenförmig ausgewachsenen Fingernägeln lagen auf der Brust, ohne sich vor der Kälte zu schützen. Früher hatte er sie unter den Achseln verborgen, am nackten Körper, aber jetzt war dort zu wenig Wärme. Die Handschuhe hatte man ihm längst gestohlen; zum Stehlen brauchte man nur Dreistigkeit — und man stahl am hellichten Tag. Eine trübe elektrische Sonne, von den Fliegen besudelt und von einem runden Gitter gefesselt, war hoch oben unter der Decke angebracht. Das Licht fiel auf die Füße des Dichters — er lag in der dunklen Tiefe der unteren Reihe der durchgehenden doppelstöckigen Pritschen, wie in einem Kasten. Von Zeit zu Zeit bewegten sich seine Finger, schnalzten wie Kastagnetten, befühlten einen Knopf, ein Knopfloch oder Loch an der Weste, fegten irgendeinen Dreck weg und hielten wieder still. Der Dichter lag so lange im Sterben, daß er nicht mehr wußte, daß er starb. Manchmal kam und bahnte sich schmerzhaft und fast spürbar ein einfacher und starker Gedanke einen Weg durchs Hirn — man habe ihm das Brot gestohlen, das er

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