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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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sie die letzten wären.
    Das Leben trat selbständig ein als unumschränkte Herrin: er hatte es nicht gerufen, und dennoch trat es in seinen Körper, in sein Hirn, trat ein wie Verse, wie Inspiration. Und die Bedeutung dieses Wortes eröffnete sich ihm zum ersten Mal in aller Fülle. Die Verse waren jene lebenspendende Kraft, in der er lebte. Eben so war es. Nicht um der Verse willen lebte er, er lebte aus den Versen.
    Jetzt war so anschaulich, so fühlbar klar, daß die Inspiration das Leben war; vor dem Tod war es ihm gegeben zu erfahren, daß das Leben Inspiration war, eben Inspiration.
    Und er freute sich, daß es ihm gegeben war, diese letzte Wahrheit zu erfahren.
    Alles, die ganze Welt war den Gedichten gleichgestellt: die Arbeit, das Pferdegetrappel, das Haus, der Vogel, der Fels, die Liebe — das ganze Leben ging leicht in die Verse ein und fand dort bequem Platz. Und das mußte auch so sein, denn die Verse waren das Wort.
    Die Strophen stellten sich auch jetzt leicht ein, eine nach der anderen, und obwohl er seine Gedichte schon lange nicht mehr aufschrieb und nicht mehr aufschreiben konnte, stellten sich die Worte doch leicht in einem vorgegebenen und jedesmal erstaunlichen Rhythmus ein. Der Reim war das Suchinstrument, das Werkzeug einer magnetischen Suche nach Worten und Begriffen. Jedes Wort war Teil der Welt, es antwortete auf den Reim, und die ganze Welt sauste mit der Schnelligkeit einer elektronischen Maschine vorüber. Alles schrie: nimm mich. Nein, mich. Er mußte nichts suchen. Er mußte nur verwerfen. Hier gab es sozusagen zwei Menschen — der, der dichtet, der seinen Kreisel nach Kräften rotieren läßt, und der andere, der auswählt und die rotierende Maschine von Zeit zu Zeit anhält. Und als er sah, daß er zwei Menschen ist, begriff der Dichter, daß er jetzt wirkliche Verse macht. Und was heißt es schon, daß sie nicht aufgeschrieben sind? Aufschreiben, gedruckt werden — das ist eitel. Was nicht ohne Eigennutz entsteht — das ist nicht das beste. Das allerbeste ist, was nicht aufgeschrieben wird, das verfaßt wird und verschwindet, spurlos vergeht, und nur die Schaffensfreude, die er empfindet und die mit nichts zu verwechseln ist, beweist, daß ein Gedicht geschaffen, daß Schönheit geschaffen ist. Irrt er sich nicht? Kann er der Schaffensfreude vertrauen?
    Er erinnerte sich, wie schlecht, wie poetisch hilflos Bloks letzte Gedichte waren und daß Blok das wohl nicht begriffen hat...
    Der Dichter zwang sich innezuhalten. Das war einfacher hier als irgendwo in Leningrad oder Moskau.
    Und jetzt ertappte er sich dabei, daß er schon lange an nichts mehr dachte. Das Leben trat wieder aus ihm heraus.
    Lange Stunden lag er regungslos, und plötzlich sah er ganz nah so etwas wie eine Zielscheibe oder eine geologische Karte. Die Karte war stumm, und er versuchte vergeblich, das Dargestellte zu verstehen. Es verging einige Zeit, bis er begriff, daß es seine eigenen Finger waren. An den Fingerspitzen waren noch braune Spuren der Machorka-Papirossy, die er aufgeraucht, ausgesaugt hatte — auf den Fingerkuppen zeichnete sich deutlich das daktyloskopische Muster ab, wie die Karte eines Bergreliefs. Das Muster war auf allen zehn Fingern gleich, kleine konzentrische Kreise, wie der Querschnitt durch einen Baum. Er erinnerte sich, wie ihn einmal als Kind auf dem Boulevard ein Chinese aus der Wäscherei anhielt, die im Keller jenes Hauses lag, in dem er aufwuchs. Der Chinese nahm ihn zufällig bei der einen Hand, bei der anderen, drehte die Handflächen nach oben und schrie erregt etwas in seiner Sprache. Es zeigte sich, daß er den Jungen zum Glückspilz erklärte, zum Besitzer eines verläßlichen Omens. An dieses Glückszeichen hatte der Dichter immer wieder gedacht, besonders oft, als er sein erstes Buch veröffentlichte. Heute dachte er an den Chinesen ohne Erbitterung und ohne Ironie — ihm war alles egal.
    Das Wichtigste war, daß er noch nicht gestorben war. Was heißt das übrigens: gestorben wie ein Dichter? Etwas kindlich Naives muß in diesem Tod sein. Oder etwas Mutwilliges, Theatralisches wie bei Jessenin, bei Majakowskij.
    Gestorben wie ein Schauspieler — das ist noch verständlich. Aber gestorben wie ein Dichter?
    Ja, er ahnte einiges davon, was ihm bevorstand. Während der Etappe hatte er schon vieles verstehen und erahnen können. Und er freute sich, freute sich still seiner Kraftlosigkeit und hoffte, daß er sterben würde. Er erinnerte sich an den uralten Streit im

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