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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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unter den Kopf gelegt hatte. Und das war so versengend schrecklich, daß er bereit war zu streiten, zu fluchen, sich zu prügeln, zu suchen, zu beweisen. Doch dafür fehlten ihm die Kräfte, und der Gedanke an das Brot wurde schwächer... Und sofort dachte er an anderes, daran, daß man alle hatte übers Meer fahren sollen, und der Dampfer hat aus irgendeinem Grund Verspätung, und es ist gut, daß er hier ist. Und ebenso leicht und diffus begann er, sich den großen Leberfleck auf dem Gesicht des Barakkendiensts vorzustellen. Den größten Teil des Tages dachte er an jene Ereignisse, die sein Leben hier ausmachten. Die Bilder, die vor seinen Augen erstanden, waren keine Bilder der Kindheit, der Jugend, des Erfolgs. Sein Leben lang hatte er es eilig gehabt. Es war wunderbar, daß er sich Zeit lassen, daß er langsam denken durfte. Und er dachte ohne Eile an die große Gleichförmigkeit der Bewegungen Sterbender, daran, was die Ärzte früher begriffen und beschrieben haben als die Künstler und Dichter. Das Hippokratische Gesicht – die Maske des sterbenden Menschen – kennt jeder Student der Medizinischen Fakultät. Diese rätselhafte Gleichförmigkeit der Bewegungen Sterbender diente Freud als Anlaß für die kühnsten Hypothesen. Gleichförmigkeit, Wiederholung — das ist notwendige Grundlage der Wissenschaft. Das, was unwiederholbar ist am Tod, haben nicht die Ärzte, sondern die Dichter gesucht. Es war angenehm zu erkennen, daß er noch denken konnte. Die Hungerübelkeit war er schon lange gewöhnt. Und alles war gleichberechtigt, Hippokrates, der Barackendienst mit dem Leberfleck und der eigene schmutzige Fingernagel.
    Das Leben trat in ihn ein und trat aus, und er lag im Sterben. Doch das Leben kam wieder, die Augen öffneten sich, es kamen Gedanken. Nur Wünsche kamen keine. Er lebte längst in einer Welt, wo man die Menschen oft ins Leben zurückholen mußte, mit künstlicher Beatmung, Glukose, Kampfer, Koffein. Der Tote wurde wieder lebendig. Und warum auch nicht? Er glaubte an die Unsterblichkeit, an die wahre menschliche Unsterblichkeit. Oft dachte er, daß es einfach keinerlei biologische Gründe gibt, weshalb der Mensch nicht ewig leben sollte... Das Alter ist nur eine heilbare Krankheit, und wäre nicht das bis heute unaufgelöste tragische Mißverständnis, könnte er ewig leben. Oder so lange, bis er es leid ist. Und er war das Leben keineswegs leid. Selbst jetzt, in dieser Durchgangsbaracke, der »Transitka«, wie die hiesigen Einwohner liebevoll sagten. Sie war die Vorstufe des Schreckens, doch der Schrecken selbst war sie nicht. Im Gegenteil, hier lebte der Geist der Freiheit, und das spürten alle. Vor ihm lag das Lager, hinter ihm das Gefängnis. Das war eine »Welt des Übergangs«, und der Dichter verstand das.
    Es gab einen weiteren Weg der Unsterblichkeit, den des Dichters Tjutschew:
    »Und selig ist , der weilt’ auf dieser Welt
    In ihren Schicksalsaugenblicken.«
    Doch wenn er offensichtlich schon nicht in seiner menschlichen Gestalt, als physische Einheit unsterblich sein konnte, dann hatte er sich die künstlerische Unsterblichkeit doch schon verdient. Man nannte ihn den ersten russischen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, und oft dachte er, daß das tatsächlich so war. Er glaubte an die Unsterblichkeit seiner Gedichte. Er hatte keine Schüler, aber können denn Dichter sie ertragen? Er hat auch Prosa geschrieben — schlechte Prosa, und Artikel. Doch nur in den Gedichten hat er für die Dichtung Neues gefunden, Wichtiges, wie ihm immer schien. All sein früheres Leben war Literatur, war Buch, Märchen, Traum, und nur der gegenwärtige Tag war das wirkliche Leben.
    All das wurde nicht widerstrebend gedacht, sondern im Stillen, irgendwo tief in ihm. Diesen Betrachtungen fehlte die Leidenschaft. Schon lange hatte ihn Gleichgültigkeit ergriffen. Was waren das alles für Lappalien, für ein »Mäusetritt« , im Vergleich zur üblen Schwere des Lebens. Er wunderte sich über sich selbst — wie konnte er so an Verse denken, wenn schon alles entschieden war, und er wußte das sehr genau, besser als irgend jemand sonst? Wer brauchte ihn hier und wem kam er gleich ? Warum hatte er all das begreifen müssen, und er wartete... und begriff.
    In jenen Momenten, wo das Leben in seinen Körper zurückkehrte und die halbgeöffneten trüben Augen plötzlich zu sehen, die Lider zu zittern und die Finger sich zu rühren begannen, kamen auch die Gedanken zurück, von denen er nicht dachte, daß

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