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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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archaische, eine instinktive Bewegung, ich fürchtete mich keineswegs vor Tritten in den Bauch. Fadejew trat mir mit dem Stiefel in den Rücken. Mir wurde plötzlich warm, aber es tat gar nicht weh. Wenn ich sterbe — um so besser.
    »Hören Sie«, sagte Fadejew, nachdem er mich mit den Stiefelspitzen mit dem Gesicht zum Himmel gedreht hatte. »Sie sind nicht der erste, mit dem ich arbeite, ich kenne Ihresgleichen.«
    Der andere Begleitposten, Seroschapka, kam dazu.
    »Zeig dich nur, dich merk ich mir. Was bist du böse und häßlich. Morgen knalle ich dich eigenhändig ab. Kapiert?«
    »Kapiert«, ich stand auf und spuckte salzige blutige Spucke aus.
    Unter dem Gejohle, Geschrei und Geschimpfe der Kameraden schleifte ich den Holzstamm hinter mir her — ihnen war kalt geworden, während man mich schlug.
    Am nächsten Morgen führte uns Seroschapka zur Arbeit in den Wald — alles einsammeln vom Einschlag im letzten Winter, was sich in unseren Eisenöfen verheizen ließ. Das Holz war im Winter gefällt, die Baumstümpfe waren hoch. Wir rissen sie mit Brechstangen aus der Erde, zersägten sie und schichteten sie zu Stapeln auf.
    An den vereinzelten heil gebliebenen Bäumen um unsere Arbeitsstätte hatte Seroschapka Merkzeichen aus gelbgrauen Grasbüscheln befestigt und mit diesen Merkzeichen die verbotene Zone markiert.
    Unser Brigadier machte auf der Anhöhe ein Feuer für Seroschapka – ein Feuer während der Arbeitszeit stand nur dem Begleitposten zu – und schleppte einen Holzvorrat herbei.
    Der gefallene Schnee war längst vom Wind verweht. Das kalte bereifte Gras fühlte sich rutschig an und wechselte bei der Berührung einer menschlichen Hand die Farbe. Auf den Erdhöckern erstarrte die niedrige Berghagebutte, ihre dunkelvioletten gefrorenen Früchte waren von erstaunlichem Aroma. Noch schmackhafter als die Hagebutte war die Preiselbeere, vom Frost berührt, überreif, graublau... An kurzen geraden Zweiglein hingen Heidelbeeren, von einem kräftigen Dunkelblau, runzlig wie ein leeres Lederportemonnaie, doch noch immer voller dunklem, blauschwarzen Saft von unbeschreibbarem Geschmack.
    In dieser Zeit, wenn sie Frost bekommen, unterscheiden sich die Beeren sehr von den Beeren der Reife, den Beeren der saftigen Zeit. Ihr Geschmack ist wesentlich feiner.
    Rybakow, mein Kamerad, sammelte in unserer Rauchpause und selbst in jenen Momenten, wo Seroschapka in die andere Richtung schaute, Beeren in eine Konservendose. Wenn Rybakow eine volle Dose mitbringt, gibt ihm der Koch der Wachtruppe Brot. Rybakows Unternehmen wurde sofort zu einer wichtigen Sache.
    Ich hatte keinen solchen Auftraggeber, und ich aß die Beeren selbst, drückte jede Beere behutsam und gierig mit der Zunge an den Gaumen, und der süße duftende Saft der zerquetschten Beere betäubte mich für einen Moment.
    Ich dachte nicht daran, Rybakow beim Sammeln zu helfen, und er hätte solche Hilfe auch nicht gewollt — dann hätte er das Brot teilen müssen.
    Rybakows Dose füllte sich zu langsam, die Beeren wurden spärlicher und spärlicher, und ohne es zu merken, Holz und Beeren sammelnd, näherten wir uns der Grenze der Zone — die Merkzeichen hingen über unseren Köpfen.
    »Paß auf«, sagte ich zu Rybakow, »gehen wir zurück.«
    Doch vor uns lagen Erdhöcker mit Hagebutten, mit Heidelbeeren, mit Preiselbeeren... Wir hatten diese Höcker längst gesehen. Der Baum mit den Merkzeichen hätte zwei Meter weiter stehen müssen.
    Rybakow zeigte auf die noch nicht gefüllte Dose und auf die zum Horizont niedersinkende Sonne und ging langsam auf die verzauberten Beeren zu.
    Trocken knallte ein Schuß, und Rybakow fiel zwischen die Erdhöcker aufs Gesicht. Seroschapka fuchtelte mit dem Gewehr und schrie:
    »Liegenlassen, nicht hingehen!«
    Seroschapka löste den Verschluß und schoß noch einmal. Wir wußten, was dieser zweite Schuß bedeutet. Das wußte auch Seroschapka. Es muß zwei Schüsse geben, der erste ist nur ein Warnschuß.
    Unerwartet klein lag Rybakow zwischen den Erdhökkern. Der Himmel, die Berge, der Fluß waren riesig, und Gott weiß, wie viele Menschen man in diesen Bergen auf den Pfaden zwischen den Erdhöckern hinstrecken kann.
    Rybakows Dose war weit gerollt, ich konnte sie aufheben und in die Tasche stecken. Vielleicht gibt man mir Brot für diese Beeren — ich wußte ja, für wen Rybakow sie gesammelt hat.
    Seroschapka ließ unsere kleine Truppe ruhig antreten, zählte durch, gab das Abmarschkommando und führte uns nach Hause.
    Mit

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