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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Gefängnis: was ist schlimmer, was ist schrecklicher — Lager oder Gefängnis? Niemand wußte wirklich etwas, die Argumente waren spekulativ, und wie grausam lächelte ein Mann, der aus dem Lager in jenes Gefängnis gebracht worden war. Das Lächeln dieses Mannes hatte er sich für immer gemerkt, so sehr, daß er die Erinnerung daran fürchtete.
    Denken sie, wie geschickt er sie betrügen wird, jene, die ihn hergeschafft haben, wenn er jetzt stirbt — um ganze zehn Jahre. Er war vor einigen Jahren verbannt gewesen und wußte, er steht für immer auf speziellen Listen. Für immer?! Die Maßstäbe haben sich verschoben und die Worte ihren Sinn verändert.
    Wieder spürte er eine kommende Kräfteflut, tatsächlich eine Flut wie im Meer. Eine vielstündige Flut. Und dann ein Abebben. Doch das Meer geht ja von uns nicht für immer fort. Er wird sich noch erholen.
    Plötzlich hätte er gern gegessen, doch ihm fehlten die Kräfte, sich zu rühren. Er erinnerte sich langsam und mühsam, daß er die heutige Suppe dem Nachbarn gegeben hatte, daß ein Becher heißes Wasser seine einzige Nahrung gewesen war den letzten Tag. Außer dem Brot, natürlich. Doch das Brot hatten sie vor langer, langer Zeit verteilt. Und das von gestern — gestohlen. Jemand hatte noch Kräfte genug, um zu stehlen.
    So lag er, leicht und gedankenlos, bis der Morgen kam. Das elektrische Licht wurde ein wenig gelber, und auf großen Sperrholzbrettern wurde Brot gebracht, so wie jeden Tag.
    Doch er regte sich nicht mehr auf, spitzte sich nicht mehr auf das Endstück, weinte nicht, wenn es ein anderer bekam, stopfte sich nicht mit zitternden Fingern die Zuwaage in den Mund, die Zuwaage, sie zerging sofort im Mund, während seine Nasenflügel sich blähten und er mit seinem ganzen Wesen den Geschmack und den Duft des frischen Roggenbrots aufnahm. Die Zuwaage war schon nicht mehr im Mund, obwohl er gar nicht hatte schlucken oder den Kiefer bewegen können. Das Stück Brot war zergangen, verschwunden, und das war ein Wunder — eines der vielen hiesigen Wunder. Nein, jetzt regte er sich nicht auf. Doch als man ihm seine Tagesration in die Hände legte, umfaßte er sie mit den blutleeren Fingern und preßte das Brot an den Mund. Er biß das Brot mit den Skorbutzähnen, das Zahnfleisch blutete, die Zähne wackelten, doch er spürte keinen Schmerz. Mit aller Kraft preßte er das Brot an den Mund, stopfte es sich in den Mund, lutschte es, riß und nagte...
    Seine Nachbarn hielten ihn zurück.
    »Iß nicht alles auf, laß es für später, später...«
    Und der Dichter verstand. Er öffnete die Augen weit, ohne das blutige Brot aus den schmutzigen bläulichen Fingern zu lassen.
    »Wann später?«, sprach er deutlich und klar. Und schloß die Augen.
    Gegen Abend war er tot.
    Doch von der Liste gestrichen wurde er erst nach zwei Tagen — den erfinderischen Nachbarn war es gelungen, bei der Brotverteilung zwei Tage das Brot des Toten zu erhalten; der Tote hob die Hand wie eine Marionette. Also war er schon vor seinem Todesdatum gestorben — ein nicht unwichtiges Detail für seine künftigen Biographen.
    1958

Kinderbildchen
    Man trieb uns ganz ohne Listen zur Arbeit, am Tor wurden Fünfergruppen abgezählt. Wir traten immer zu fünfen an, denn längst nicht alle Begleitposten waren sicher in der Anwendung des Einmaleins. Jede Rechenoperation, im Frost auszuführen und noch dazu an lebendigem Material, ist eine heikle Sache. Der Kelch der Häftlingsgeduld kann plötzlich überlaufen, und die Leitung kalkulierte das ein.
    Heute hatten wir leichte Arbeit, Ganoven-Arbeit — Holzmachen an der Kreissäge. Die Säge drehte sich in der Bank und tackerte leicht. Wir wälzten einen gewaltigen Block auf den Tisch und schoben ihn langsam zur Säge vor.
    Die Säge kreischte und knurrte grimmig — sie mochte die Arbeit im Norden so wenig wie wir, doch wir schoben den Block immer weiter voran, und da zerfiel der Block in zwei Teile, überraschend leichte Stücke.
    Unser dritter Kamerad spaltete das Holz mit einem schweren bläulichen Beil mit langem gelben Stiel. Dicke Klötze behaute er von den Rändern her, die dünneren durchschlug er mit dem ersten Hieb. Die Hiebe waren schwach — unser Kamerad war genauso ausgehungert wie wir, doch gefrorene Lärche hackt sich leicht. Die Natur des Nordens ist nicht gleichgültig, nicht teilnahmslos — sie steht mit jenen im Einvernehmen, die uns hierher geschickt haben.
    Wir beendeten die Arbeit, stapelten das Holz und warteten auf den

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