Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Begleitposten. Wir hatten ja einen Posten dabei, er wärmte sich in dem Büro, für das wir das Brennholz sägten, doch nach Hause zurückkehren mußten wir in voller Parade — im ganzen Trupp, der in der Stadt zu Grüppchen zerschlagen wurde.
Nach beendeter Arbeit gingen wir uns nicht wärmen. Schon längst hatten wir in der Nähe des Zauns einen großen Müllhaufen bemerkt — so etwas läßt man sich nicht entgehen. Meine beiden Kameraden untersuchten den Haufen geschickt und routiniert, indem sie eine der vereisten Schichten nach der anderen abtrugen. Gefrorene Brotstücke, zum Eisklumpen verklebte Koteletts und zerrissene Männersokken waren ihre Beute. Das Wertvollste waren natürlich die Socken, und ich bedauerte, daß nicht ich diesen Fund gemacht hatte. Freie – »zivile« – Socken, Schals, Handschuhe, Hemden oder Hosen waren eine große Kostbarkeit unter Leuten, die jahrzehntelang nur Staatssachen getragen hatten. Die Socken konnte man stopfen und flicken — dann hatte man Tabak, dann hatte man Brot.
Der Erfolg der Kameraden stachelte mich an. Auch ich trat und brach mit Füßen und Händen verschiedenfarbige Stücke des Müllbergs ab. Unter irgendeinem Lumpen, der aussah wie menschliches Gedärm, sah ich – zum ersten Mal seit vielen Jahren – ein graues Schülerheft.
Das war ein gewöhnliches Schulheft, ein Zeichenheft für Kinder. Sämtliche Seiten waren mit Farbstiften ausgemalt, sorgsam und genau. Ich blätterte in dem frostspröden Papier, den reifbedeckten bunten und kalten naiven Blättern. Auch ich hatte einmal gemalt – das war lange her – am Eßtisch hockend, bei der Dreiviertelzoll-Petroleumlampe. Von der Berührung mit den Zauberpinseln erwachte der tote Recke aus dem Märchen, wie mit lebendigem Wasser besprüht. Die Aquarellfarben, die aussahen wie Damenknöpfe, lagen in einer weißen Blechkiste. Iwan Zarewitsch galoppierte auf einem grauen Wolf durch den Tannenwald. Die Tannen waren kleiner als der graue Wolf. Iwan Zarewitsch saß auf dem Wolf, wie die Ewenken auf Rentieren reiten, mit den Fersen fast das Moos berührend. Ein Rauchsäulchen schraubte sich in den Himmel hinauf, und in den blauen Sternenhimmel waren, wie Häkchen, Vögelchen gesetzt.
Und je stärker ich mich an meine Kindheit erinnerte, um so deutlicher wurde mir, daß sich meine Kindheit nicht wiederholen wird, daß ich in einem fremden Kinderheft auch nicht eine Spur davon wiederfinde.
Das war ein grausames Heft.
Die nördliche Stadt war aus Holz gebaut, Zäune und Hauswände waren in hellem Ocker gestrichen, und der Pinsel des jungen Künstlers wiederholte diese gelbe Farbe redlich überall, wo der Junge von Stadthäusern sprechen wollte, vom Werk einer menschlichen Hand.
In dem Heft gab es viele, sehr viele Zäune. Fast auf jeder Zeichnung waren Menschen und Häuser von gelben, ordentlichen Zäunen umgeben, um die sich die schwarzen Linien des Stacheldrahts wanden. Die Eisendrähte nach staatlichem Vorbild bedeckten in dem Kinderheft sämtliche Zäune.
Am Zaun standen Leute. Die Menschen in diesem Heft waren weder Bauern noch Arbeiter, noch Jäger — sie waren Soldaten, sie waren Begleit- und Wachposten mit Gewehren. Die Regenschutz-Pilze, neben denen der junge Künstler Begleiter und Wachposten plazierte, standen am Fuß von riesigen Wachtürmen. Auch auf den Wachtürmen patrouillierten Soldaten und blinkten Gewehrläufe.
Das Heft war nicht groß, doch der Junge hatte darin sämtliche Jahreszeiten seiner Heimatstadt malen können.
Eine leuchtende Erde, monochrom grün wie auf den Bildern des frühen Matisse, und ein tiefblauer Himmel, frisch, sauber und klar. Die Sonnenunter- und aufgänge waren gediegen rot, und das lag nicht an der kindlichen Unfähigkeit, mittlere Töne, farbliche Übergänge zu finden und die Geheimnisse des Helldunkel zu ergründen.
Die Verbindung der Farben im Schulheft war eine korrekte Darstellung des Himmels des Hohen Nordens, dessen Farben ungewöhnlich rein und klar sind und keine mittleren Töne kennen.
Mir fiel die alte nördliche Legende ein, daß Gott noch ein Kind war, als er die Tajga erschuf. Es gab wenige Farben, die Farben waren kindlich rein, die Zeichnungen einfach und klar, ihr Gegenstand schlicht.
Später, als Gott heranwuchs und erwachsen wurde, lernte er die bizarren Muster des Laubwerks schnitzen und ersann eine Menge vielfarbiger Vögel. Er war die Kinderwelt leid, und er überschüttete seine Tajgaschöpfung mit Schnee und ging für immer in den Süden.
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