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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Kljutschi, das ist fünfzehn Kilometer von hier. Ich werde einen Passierschein haben. Und wir fliehen zum Meer. Machst du mit?«
    Er hatte all das gleichgültig herausgesprudelt.
    »Und am Meer? Schwimmen?«
    »Ganz egal. Wichtig ist, einen Anfang zu machen. So kann ich nicht leben. ›Lieber aufrecht sterben, als auf Knien leben‹ «, sprach Schestakow feierlich. »Wer hat das gesagt?«
    Tatsächlich. Ein bekannter Satz. Aber ich hatte nicht die Kräfte, mich zu erinnern, wer diese Worte wann gesagt hatte. Alles Buchwissen war vergessen. Daran glaubte man nicht. Ich krempelte die Hosenbeine hoch und zeigte meine roten Skorbutgeschwüre.
    »Die heilst du im Wald auch aus«, sagte Schestakow, »mit Beeren, mit Vitaminen. Ich bring dich raus, ich weiß den Weg. Ich habe eine Karte...«
    Ich schloß die Augen und dachte nach. Ans Meer führen von hier drei Wege — und keiner unter fünfhundert Kilometern. Nicht nur ich, auch Schestakow kann das nicht schaffen. Will er mich als Nahrung mitnehmen? Natürlich nicht. Aber warum lügt er? Er weiß das so gut wie ich; und plötzlich bekam ich Angst vor Schestakow — dem einzigen von uns, der in seinem Beruf arbeiten konnte. Wer hatte ihn da eingestellt und um welchen Preis? Man muß ja für alles bezahlen. Mit fremdem Blut, einem fremden Leben...
    »Ich mache mit«, sagte ich und öffnete die Augen. »Nur muß ich mich aufpäppeln.«
    »Ja, das ist gut, sehr gut. Aufpäppeln ist wichtig. Ich bringe dir... Konserven. Bei uns geht das ja...«
    Es gibt viele Konserven auf der Welt — Fleisch-, Fisch-, Obst- oder Gemüsekonserven... Doch die herrlichste von allen ist Kondensmilch — dicke süße Kondensmilch. Natürlich darf man sie nicht mit kochendem Wasser verlängern. Man muß sie mit dem Löffel essen oder aufs Brot streichen oder in kleinen Schlucken aus der Dose schlürfen, muß sie langsam essen und zuschauen, wie sich die helle flüssige Masse gelb färbt, wie sich Zuckersternchen ans Blech setzen...
    »Morgen«, sagte ich, atemlos vor Glück, »Kondensmilch...«
    »Gut, sehr gut. Kondensmilch.« Und Schestakow ging.
    Ich kehrte in die Baracke zurück, legte mich hin und schloß die Augen. Denken war nicht leicht. Das war ein physischer Prozeß — die Materialität unserer Psyche ging mir zum ersten Mal in aller Anschaulichkeit, in aller Fühlbarkeit auf. Denken tat weh. Aber ich mußte denken. Er holt uns zur Flucht zusammen und gibt uns dann preis, das war vollkommen klar. Er wird für seine Arbeit im Kontor mit unserem Blut, mit meinem Blut bezahlen. Man wird uns entweder gleich an Ort und Stelle töten, in Tschornye Kljutschi, oder man bringt uns lebend zurück und verurteilt uns, noch einmal fünfzehn Jahre. Denn er muß doch wissen, daß man hier nicht rauskommt. Aber Kondensmilch, dicke, süße Kondensmilch...
    Ich schlief ein, und in meinem wirren Hungertraum sah ich diese Schestakowsche Dose Kondensmilch — eine gigantische Dose mit wolkenblauem Etikett. Die riesige Dose, blau wie der Nachthimmel, war an tausend Stellen durchlöchert, und die Milch, breiter Strom der Milchstraße, sickerte hervor. Und ich reichte leicht mit den Händen an den Himmel und aß die dicke süße Sternenmilch.
    Ich erinnere mich nicht, was ich an diesem Tag getan und wie ich gearbeitet habe. Ich wartete, wartete darauf, daß sich die Sonne gen Westen neigt, daß die Pferde zu wiehern beginnen, die das Ende des Arbeitstages besser erahnen als die Menschen.
    Heiser tönte die Sirene, und ich ging zur Baracke, wo Schestakow wohnte. Er erwartete mich auf der Vortreppe. Seine Jackentaschen waren ausgebeult.
    Wir setzten uns an den großen sauberen Tisch in der Baracke, und Schestakow zog zwei Dosen Kondensmilch aus der Tasche.
    Mit einer Ecke des Beils lochte ich die Dose. Ein dicker weißer Strahl floß auf den Deckel, auf meine Hand.
    »Du hättest ein zweites Loch schlagen müssen. Für die Luft«, sagte Schestakow.
    »Macht nichts«, sagte ich und leckte mir die schmutzigen süßen Finger ab.
    »Gebt mal einen Löffel«, sagte Schestakow und drehte sich zu den uns umringenden Arbeitern um. Zehn glänzende, saubergeleckte Löffel wurden über den Tisch gestreckt. Alle standen und schauten zu, wie ich aß. Und darin war keine Taktlosigkeit oder der verborgene Wunsch, etwas abzubekommen. Niemand von ihnen hoffte auch nur, ich würde die Milch mit ihm teilen. So etwas hatte man nie gesehen — ihr Interesse an fremdem Essen war völlig selbstlos. Und ich wußte, daß man Essen, das

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