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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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So sagt es die Legende.
    Auch in den Winterzeichnungen hatte sich das Kind von der Wahrheit nicht entfernt. Das Grün war verschwunden. Die Bäume waren schwarz und nackt. Es waren Dahurische Lärchen, nicht die Kiefern und Fichten meiner Kindheit.
    Eine nördliche Jagd: ein bissiger deutscher Schäferhund zieht an der Leine, die Iwan Zarewitsch hält. Iwan Zarewitsch trägt eine Militärmütze mit Ohrenklappen, einen weißen Schafshalbpelz, Filzstiefel und lange Handschuhe,
»kragi«
, wie man sie im Hohen Norden nennt. Auf Iwan Zarewitschs Rücken hängt eine Maschinenpistole. Nackte dreieckige Bäume stecken im Schnee.
    Das Kind hatte nichts gesehen und erinnerte sich an nichts als an gelbe Häuser, Stacheldraht, Wachtürme, Schäferhunde, Begleitposten mit Maschinenpistolen und einen tiefblauen Himmel.
    Mein Kamerad warf einen Blick in das Heft und befühlte die Blätter.
    »Such lieber eine Zeitung für Tabak.« Er riß mir das Heft aus der Hand, zerknüllte es und warf es auf den Müll. Das Heft überzog sich langsam mit Reif.
    1959

Kondensmilch
    Vom Hunger war unser Neid dumpf und kraftlos, wie jedes unserer Gefühle. Uns fehlte die Kraft für Gefühle, dazu, uns eine leichtere Arbeit zu suchen, um hinzugehen, zu fragen, zu bitten... Neidisch waren wir nur auf unsere Bekannten, jene, die gemeinsam mit uns in diese Welt gekommen waren, jene, die eine Beschäftigung im Kontor, im Krankenhaus, im Pferdestall bekommen hatten — dort gab es nicht die vielstündige schwere körperliche Arbeit, die an den Giebelseiten aller Tore als Sache der Tapferkeit und des Heldentums gepriesen wurde. Kurz, neidisch waren wir nur auf Schestakow.
    Nur etwas Äußeres konnte uns aus der Gleichgültigkeit herausführen, uns vom langsam herannahenden Tod entfernen. Eine äußere, keine innere Kraft. Innen war alles ausgebrannt und verödet, uns war alles egal, und weiter als bis zum morgigen Tag machten wir keine Pläne.
    So auch jetzt — ich wollte in die Baracke gehen und mich auf die Pritsche legen, doch ich stand die ganze Zeit in der Tür des Lebensmittelladens. In diesem Laden konnten nur nach Sozialparagraphen Verurteilte einkaufen, und auch die zu den »Volksfreunden« zählenden Gewohnheitsverbrecher. Wir hatten dort nichts zu suchen, doch ich konnte die Augen nicht abwenden von den schokoladenbraunen Brotlaiben; der süße und schwere Geruch frischen Brots kitzelte die Nase — mir wurde sogar schwindlig von diesem Geruch. Ich stand da und wußte nicht, wann ich in mir die Kraft finden würde, in die Baracke zu gehen, und schaute auf das Brot. Und da rief mich Schestakow.
    Schestakow kannte ich vom Großen Land, aus dem Butyrka-Gefängnis: wir hatten in derselben Zelle gesessen. Freunde waren wir dort nicht gewesen, bloß Bekannte. Im Bergwerk arbeitete Schestakow nicht vor Ort. Er war Ingenieurgeologe, und man hatte ihm Arbeit in der geologischen Erkundung gegeben, das heißt im Kontor. Der Glückspilz grüßte sich kaum mit seinen Moskauer Bekannten. Wir nahmen es nicht übel — wer weiß, was man ihm da befohlen hatte. Jeder ist sich selbst... etc.
    »Willst du rauchen?«, sagte Schestakow und hielt mir einen Zeitungsfetzen hin, streute Machorka darauf, riß ein Streichholz an, ein echtes Streichholz...
    Ich rauchte.
    »Ich muß mit dir reden«, sagte Schestakow.
    »Mit mir?«
    »Ja.«
    Wir gingen hinter die Baracken und setzten uns an den Rand einer alten Schürfgrube. Mir wurden sofort die Beine schwer, aber Schestakow baumelte fröhlich mit seinen nagelneuen Staatsschuhen, die leicht nach Fischtran rochen. Seine Hosenbeine waren hochgerutscht und ließen Schachbrettsocken sehen. Ich beschaute Schestakows Füße mit wahrer Begeisterung und sogar einigem Stolz — wenigstens einer aus unserer Zelle trägt keine Fußlappen. Die Erde unter uns bebte von dumpfen Explosionen — da wurde der Untergrund für die Nachtschicht bereitet. Kleine Steinchen fielen raschelnd vor unsere Füße, grau und unscheinbar wie Vögel.
    »Gehen wir weiter weg«, sagte Schestakow.
    »Das bringt uns nicht um, keine Angst. Die Socken bleiben heil.«
    »Ich rede nicht von den Socken«, sagte Schestakow und führte den Zeigefinger am Horizont entlang. »Was meinst du zu all dem?«
    »Wir werden sicher sterben«, sagte ich. Daran wollte ich am allerwenigsten denken.
    »Nein, nein, zu sterben bin ich nicht bereit.«
    »Und?«
    »Ich habe eine Karte«, sagte Schestakow träge. »Ich nehme Arbeiter mit und dich, und wir laufen nach Tschornye

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