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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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ebenfalls die Erwartung eines Wunders), kann er nicht anders, als mit schnellem Blick die Hände seiner Nachbarn zu überfliegen, die ebenfalls ihr Heringsstückchen streicheln und kneten, aus Angst, dieses winzige Schwänzchen zu eilig zu verschlingen. Er ißt den Hering nicht, er leckt, er beleckt ihn, und das Schwänzchen verschwindet allmählich aus den Fingern. Bleiben die Gräten, und vorsichtig kaut er die Gräten, kaut sie behutsam, und die Gräten zergehen und sind verschwunden. Dann macht er sich an das Brot – die fünfhundert Gramm für den ganzen Tag werden am Morgen ausgegeben –, er bricht immer ein winziges Stückchen ab und steckt es in den Mund. Das Brot essen alle sofort, so kann es niemand stehlen und niemand wegnehmen, und man schafft es auch nicht, es aufzusparen. Nur darf man sich nicht beeilen, darf kein Wasser dazu trinken, darf nicht kauen. Man muß es lutschen, wie Zucker, wie ein Bonbon. Dann kann man den Becher Tee nehmen — lauwarmes Wasser, geschwärzt mit gebrannter Rinde.
    Gegessen ist der Hering, gegessen ist das Brot, getrunken der Tee. Gleich wird es heiß und man möchte nirgends hingehen, möchte sich hinlegen, doch man muß sich schon anziehen – die zerlumpte Weste überziehen, die deine Decke war, mit Bindfäden die Sohlen unter die zerrissenen gesteppten Watte
burki
binden, unter die Stiefel, die dein Kopfkissen waren, und man muß sich beeilen, denn die Türen sind wieder weit geöffnet, und hinter dem Stacheldrahtzaun um den kleinen Hof stehen Begleitposten und Hunde...
    Wir sind in Quarantäne, in Typhusquarantäne, doch man läßt uns nicht faul herumliegen. Man treibt uns zur Arbeit, nicht nach Listen, man zählt einfach am Tor Fünfergruppen ab. Es gibt eine Methode, eine ziemlich verläßliche, jeden Tag an eine verhältnismäßig lohnende Arbeit zu kommen. Man braucht nur Geduld und Ausdauer. Eine lohnende Arbeit ist immer die, wohin wenig Leute geschickt werden: zwei, drei, vier. Eine Arbeit, wohin zwanzig, dreißig, hundert geschickt werden, das ist schwere Arbeit, meistens Erdarbeiten. Und obwohl man dem Häftling niemals im voraus die Einsatzorte bekanntgibt, erfährt er sie schon auf dem Weg, und Glück in dieser schrecklichen Lotterie haben die Menschen mit Geduld. Man muß sich nach hinten verdrücken, in fremde Reihen, sich abseits halten und dann nach vorn stürzen, wenn eine kleine Gruppe zusammengestellt wird. Bei den großen Trupps aber ist das Lohnendste Gemüsesortieren im Lagerhaus, die Brotfabrik, kurz, all jene Orte, wo die Arbeit mit Essen verbunden ist, künftigem oder fertigem — dort gibt es immer Reste, Brösel, Schnitzel von Eßbarem.
    Wir traten an und wurden durch die schmutzige April-Straße geführt. Die Stiefel der Begleitposten patschten munter durch die Pfützen. Wir durften innerhalb der Stadtgrenzen den Verband nicht auflösen — niemand ging um die Pfützen herum. Die Füße wurden naß, doch wir achteten nicht darauf, vor Erkältungen hatten wir keine Angst. Wir hatten uns schon tausend Mal erkältet, und das Schrecklichste, was dabei passieren konnte – zum Beispiel eine Lungenentzündung –, hätte ins ersehnte Krankenhaus geführt. Durch die Reihen ging abgehacktes Geflüster:
    »In die Brotfabrik, hörst du, in die Brotfabrik!«
    Es gibt Leute, die ewig alles wissen und alles erraten. Es gibt auch solche, die in allem das Beste sehen wollen, und ihr sanguinisches Temperament findet in der schwierigsten Lage immer eine Formel des Einverständnisses mit dem Leben. Für andere dagegen entwickeln sich die Ereignisse immer zum Schlechteren, und auf jede Verbesserung reagieren sie skeptisch, wie auf ein Versäumnis des Schicksals. Und dieser Unterschied in den Einstellungen hat wenig mit der persönlichen Erfahrung zu tun: er ist sozusagen in der Kindheit gegeben — fürs ganze Leben...
    Unsere kühnsten Hoffnungen hatten sich erfüllt — wir standen vor den Toren der Brotfabrik. Zwanzig Personen, die Hände in die Ärmel gesteckt, traten auf der Stelle, die Rükken dem durchdringenden Wind zugewandt. Die Begleitposten gingen beiseite und steckten sich eine Papirossa an. Aus der kleinen, ins Tor geschnittenen Tür kam ein Mann ohne Mütze, im blauen Kittel. Er sprach mit den Begleitposten und trat zu uns. Langsam ließ er den Blick über alle wandern. Die Kolyma macht jeden zum Psychologen, und er mußte in einem Moment sehr viel erfassen. Unter den zwanzig zerlumpten Gestalten mußte er zwei auswählen für die Arbeit drinnen

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