Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
im Mund eines anderen Menschen verschwindet, nicht aus den Augen lassen kann. Ich setzte mich bequem hin und aß die Milch ohne Brot, ab und zu nahm ich einen Schluck kaltes Wasser. Ich aß beide Dosen auf. Die Zuschauer zogen sich zurück — die Vorstellung war beendet. Schestakow sah mich teilnahmsvoll an.
»Weißt du«, sagte ich und leckte den Löffel sorgfältig ab, »ich habe es mir überlegt. Geht ohne mich.«
Schestakow verstand und ging raus, ohne mir ein Wort zu sagen.
Das war natürlich eine armselige Rache, schwach, wie alle meine Gefühle. Doch was konnte ich mehr tun? Die anderen warnen — ich kannte sie nicht. Und warnen hätte man müssen, fünf Mann hatte Schestakow überredet. Eine Woche später flohen sie, zwei wurden in der Nähe von Tschornye Kljutschi getötet, drei einen Monat später verurteilt. Schestakows eigenes Verfahren wurde abgetrennt, bald wurde er irgendwohin verlegt, und ein halbes Jahr später traf ich ihn in einem anderen Bergwerk. Eine weitere Haftstrafe hatte er für die Flucht nicht bekommen — die Leitung hatte mit ihm ein ehrliches Spiel gespielt, doch es hätte ja auch anders sein können.
Er arbeitete in der geologischen Erkundung, war rasiert und satt, und seine Schachbrettsocken waren immer noch heil. Mich grüßte er nicht, und zu Unrecht: zwei Dosen Kondensmilch sind schließlich keine so große Sache...
‹1956›
Brot
Die riesige zweiflügelige Tür ging auf, und der Austeiler trat in die Etappenbaracke. Er erschien in einem breiten Streifen Morgenlicht, das der blaue Schnee reflektierte. Zweitausend Augen schauten ihn von allen Seiten an: von unten, unter den Pritschen hervor, von geradeaus, von der Seite und von oben, von der Höhe der vierstöckigen Pritschen herab, wohin auf der Leiter hochstieg, wer die Kräfte noch hatte. Heute war Heringstag, und hinter dem Austeiler wurde ein riesiges Sperrholztablett hergetragen, das sich unter einem Berg von halbierten Heringen bog. Hinter dem Tablett lief der Aufseher vom Dienst im weißen, sonnengleich glänzenden kurzen Außenschafspelz. Der Hering wurde morgens ausgegeben, jeden zweiten Tag eine Hälfte. Welche Berechnungen von Eiweiß und Kalorien hier angestellt wurden, das wußte niemand, und es interessierte sich auch niemand für solche Scholastik. Im Flüsterton wiederholten Hunderte Leute ein und dasselbe Wort: Schwänze. Irgendein weiser Chef hatte mit Rücksicht auf die Psychologie der Häftlinge verfügt, zur gleichen Zeit entweder nur Heringsköpfe oder nur Schwänze auszugeben. Die Vorzüge beider waren hundertfach erörtert: an den Schwänzen, so schien es, war mehr Fischfleisch, doch dafür spendete der Kopf mehr Befriedigung. Der Prozeß der Nahrungsaufnahme dauerte fort, solange man die Kiemen ablutschte und den Fischkopf aussog. Der Hering wurde unausgenommen verteilt, und das wurde von allen begrüßt: denn man aß ihn samt allen Gräten und Haut. Doch das Bedauern, daß es heute kein Fischkopf war, blitzte auf und war verschwunden: Die Schwänze waren eine Gegebenheit, ein Faktum. Außerdem näherte sich das Tablett, und jetzt kam der aufregendste Moment: welche Größe hat das Stück, das man bekommt, tauschen konnte man ja nicht, protestieren auch nicht, alles war eine Sache des Glücks — der Karten in diesem Spiel mit dem Hunger. Der Mensch, der die Heringe irgendwie in Portionen schneidet, versteht nicht immer (oder hat es einfach vergessen), daß zehn Gramm mehr oder weniger – zehn Gramm, die dem Auge wie zehn Gramm erscheinen – zu einem Drama führen können, vielleicht zu einem blutigen Drama. Von den Tränen gar nicht zu reden. Tränen sind häufig, sie verstehen alle, und über Weinende lacht man nicht.
Während der Austeiler näher kam, rechnete sich jeder schon aus, welches Stück genau ihm diese gleichgültige Hand hinhalten würde. Jeder hatte noch Zeit, sich zu grämen, sich zu freuen, sich auf ein Wunder einzustellen oder an den Rand der Verzweiflung zu geraten, wenn er sich in seinen eiligen Berechnungen geirrt hatte. So mancher konnte seine Aufregung nicht beherrschen, er kneift die Augen zusammen, um sie erst dann zu öffnen, wenn der Austeiler ihn anstößt und ihm die Heringsportion hinhält. Dann, während er den Hering mit den schmutzigen Fingern packt, ihn schnell und behutsam streichelt und drückt, um festzustellen, ob er eine trockene oder fette Portion erhalten hat (übrigens sind die ochotskischen Heringe nicht fett, und diese Bewegung der Finger war
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