Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
taten.
Nach diesen Übungen ging der Ehrengast, um Einfälle nicht verlegen, zur russischen Nationalnummer über: mit dem auf den Ellbogen gestützten Arm drückte er den Arm des Gegners, der dieselbe Position einnimmt, auf den Tisch. Ernsthaften Widerstand konnten die grauhaarigen und kahlen Neuropathologen und Internisten ihm nicht entgegensetzen, und nur der Chefchirurg hielt etwas länger durch als die anderen.
Der Ehrengast suchte nach neuen Gelegenheiten, seine russische Kraft zu erproben. Mit einer Entschuldigung bei den Damen entledigte er sich des Uniformrocks, der von der Hausherrin sofort aufgefangen und über eine Stuhllehne gehängt wurde. An einer plötzlichen Belebung des Gesichts war zu sehen, daß der Ehrengast einen Einfall hatte.
»Ich kann einem Hammel, einem Hammel, verstehen Sie, den Kopf umdrehen. Krach — und vorbei.« Der Ehrengast packte Andrej Iwanowitsch an einem Knopf. »Und diesem deinen... Geschenk — reiße ich den Kopf lebendig ab«, sagte er und ergötzte sich an dem Eindruck, den er machte. »Wo ist der Hahn?«
Der Hahn wurde aus dem häuslichen Hühnerstall geholt, wohin ihn die fürsorgliche Hausfrau schon geschafft hatte. Im Norden (natürlich im Winter) halten alle Chefs in ihren Wohnungen ein paar Dutzend Hühner; ob Junggeselle oder verheiratet — Hühner sind in jedem Fall ein sehr einträglicher Posten.
Der Ehrengast stellte sich in der Mitte des Zimmers auf und hielt den Hahn in den Händen. Andrej Iwanowitschs Liebling lag noch immer ruhig, beide Beine untergezogen und den Kopf zur Seite geneigt. So hatte ihn Andrej Iwanowitsch zwei Jahre lang in seiner einsamen Wohnung umhergetragen.
Die kräftigen Finger packten den Hahn um den Hals. Auf dem Gesicht des Ehrengastes trat die Röte durch die unreine dicke Haut. Mit einer Bewegung, mit der man Hufe geradebiegt, riß der Ehrengast den Hahnenkopf vollständig ab. Hahnenblut spritzte auf die gebügelten Hosen und das Seidenhemd.
Die Damen, duftende Tüchlein gezückt, stürzten alle auf einmal herbei, um die Hosen des Ehrengastes zu säubern.
»Eau de Cologne.«
»Mit Salmiakgeist.«
»Waschen Sie es mit kaltem Wasser aus.«
»Aber eine Kraft, eine Kraft. Das ist echt russisch. Krach — und vorbei«, begeisterte sich der Jubilar.
Der Ehrengast wurde zum Herauswaschen ins Bad geschleppt.
»Bitte in den Saal zum Tanz«, der Jubilar lief geschäftig hin und her. »Ein echter Herkules...«
Man kurbelte das Koffergrammophon an. Die Nadel knisterte.
Andrej Iwanowitsch, der vom Tisch aufstand, um sich am Tanz zu beteiligen (der Ehrengast mochte es, wenn alle tanzten), trat mit dem Fuß auf etwas Weiches. Er bückte sich und sah den toten Hahnenkörper, den kopflosen Leichnam seines Lieblings.
Andrej Iwanowitsch richtete sich auf, schaute sich um und schubste den toten Vogel mit dem Fuß tiefer unter den Tisch. Dann ging er schnell aus dem Raum — der Ehrengast mochte es nicht, wenn man zu spät kam zum Tanz.
‹1956›
Schocktherapie
Schon zu jenen glücklichen Zeiten, als Mersljakow als Stallknecht arbeitete und in der selbstgemachten Graupenmühle – einer großen Konservenbüchse mit siebartig durchlöchertem Boden – aus dem für die Pferde erhaltenen Hafer Grütze für die Menschen zubereiten, einen Brei kochen und mit diesem bitteren, heißen Fraß den Hunger stillen konnte, schon damals dachte er über eine einfache Frage nach. Die großen Zugpferde vom Festland bekamen täglich eine doppelt so große Portion staatlichen Hafer wie die gedrungenen, zottigen Jakutenpferdchen, obwohl die einen genauso wenig zogen wie die anderen. Dem Percheron-Mischling Grom wurde soviel Hafer in die Krippe geschüttet, wie er für fünf »Jakutenpferdchen« gereicht hätte. Das war richtig, so wurde es überall gemacht, und nicht das quälte Mersljakow. Er verstand nicht, warum die menschliche Lagerverpflegung, dieser geheimnisvolle Katalog von Eiweißen, Fetten, Vitaminen und Kalorien, die zum Verzehr durch die Häftlinge bestimmt waren, das sogenannte Kesselblatt, vollkommen ohne Rücksicht auf das Lebendgewicht der Menschen zusammengestellt wird. Wenn man zu ihnen schon ein Verhältnis hat wie zu Arbeitsvieh, dann müßte man auch in Fragen der Zuteilung konsequenter sein und sich nicht an irgendein arithmetisches Mittel – eine Bürokratenerfindung – halten. Dieses schreckliche Mittel war bestenfalls nur für die Kleingewachsenen günstig, und tatsächlich, die Kleingewachsenen liefen später auf Grund als die
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