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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Laster vom »Partisan« gestanden hatte, stand ein komfortabler »Rabe« — ein Gefängnisbus mit vergitterten Fenstern. Ich setzte mich hinein. Die vergitterten Türen schlossen sich, die Begleitposten nahmen im Gang Platz, und der Bus fuhr los. Einige Zeit folgte der »Rabe« der Trasse, der zentralen Chaussee, die das gesamte Gebiet der Kolyma in zwei Hälften teilt, dann aber bog er irgendwo seitlich ab. Die Straße schlängelte sich zwischen den Bergen, der Motor schnaufte die ganze Zeit auf den Steigungen; Felswände mit lichtem Lärchenwald und die bereiften Zweige des Weidengebüschs. Schließlich, nach dem Umrunden einiger Berge, erreichte der Bus durch ein Bachbett ein kleines Plateau. Hier gab es eine Schneise, Wachtürme, und weiter, etwa dreihundert Meter entfernt — schiefe Türme und eine dunkle Masse von Baracken, umgeben von Stacheldrahtzaun.
    Die Tür einer kleinen Bude an der Straße ging auf, und der Diensthabende, mit Revolver am Gürtel, kam raus.
    Der Bus hielt an, der Motor lief weiter.
    Der Chauffeur sprang aus der Kabine und ging an meinem Fenster vorbei.
    »Das waren vielleicht Kurven. Wirklich ›Serpentinen‹.«
    Dieses Stichwort kannte ich, es sagte mir mehr als der drohende Name Smertin. Das war »Serpantinnaja«, das berühmte Untersuchungsgefängnis an der Kolyma, wo im letzten Jahr so viele Leute umgekommen waren. Ihre Leichen waren noch nicht verwest. Übrigens, diese Leichen werden niemals verwesen — Tote des Dauerfrostbodens.
    Der Postenführer nahm den Pfad zum Gefängnis, und ich saß am Fenster und dachte, daß jetzt auch meine Stunde gekommen, daß die Reihe an mir war. An den Tod zu denken war genauso schwierig wie an irgend etwas anderes. Ich malte mir die eigene Erschießung nicht aus. Ich saß und wartete.
    Die winterliche Dämmerung brach schon an. Die Tür des »Raben« ging auf, der Postenführer warf mir Filzstiefel zu.
    »Zieh sie an! Zieh die
burki
aus.«
    Ich probierte die Stiefel an. Nein, sie passen nicht. Zu klein.
    »In den
burki
kommst du nicht hin«, sagte der Pockennarbige.
    »Ich komme schon hin.«
    Der Pockennarbige schmiß die Filzstiefel in eine Ecke des Busses.
    »Fahren wir!«
    Der »Rabe« wendete und ließ die »Serpantinnaja« rasch hinter sich.
    Bald erkannte ich an den vorüberhuschenden Autos, daß wir wieder auf der Trasse waren.
    Der Bus drosselte das Tempo — ringsum brannten die Lichter einer großen Siedlung. Er hielt an der Vortreppe eines strahlend erleuchteten Hauses, und ich trat in den hellen Korridor, ganz ähnlich jenem, wo der Bevollmächtigte Smertin residierte: hinter einer Holzschranke saß neben dem Wandtelefon der Diensthabende mit einer Pistole an der Seite. Das war die Siedlung Jagodnyj. Am ersten Tag der Reise waren wir nur siebzehn Kilometer gefahren. Wohin werden wir weiter fahren?
    Der Diensthabende führte mich in ein entferntes Zimmer, das sich als Karzer mit einer Bettstelle, einem Eimer Wasser und einem Kübel erwies. In die Tür war ein »Guckloch« geschnitten.
    Ich verbrachte dort zwei Tage. Ich schaffte es sogar, die Verbände an den Füßen zu trocknen und neu zu binden — vom Skorbut waren meine Füße voller Eitergeschwüre.
    Im Haus der Kreisabteilung des NKWD herrschte provinzieller Friede. Aus meinem Winkel lauschte ich angestrengt. Selbst bei Tag stapfte selten, sehr selten jemand über den Korridor. Selten öffnete sich die Eingangstür, wurden Schlüssel in den Türen gedreht. Auch der Diensthabende, der ständige Diensthabende, unrasiert, in einer alten Wattejacke, den Revolver im Schulterholster — alles wirkte provinziell im Vergleich zu dem blitzenden Chattynach, wo Genosse Smertin hohe Politik machte. Das Telefon klingelte selten, sehr selten.
    »Ja. Sie tanken auf. Ja. Ich weiß nicht, Genosse Natschalnik... Gut, ich richte es ihnen aus.«
    Von wem war hier die Rede? Von meinen Begleitposten? Einmal am Tag, gegen Abend, ging die Tür meiner Zelle auf, und der Diensthabende trug einen Napf Suppe und ein Stück Brot herein.
    »Iß!«
    Das ist mein Mittagessen. Ein staatliches. Und er brachte einen Löffel. Der zweite Gang war mit dem ersten vermischt, in die Suppe geschüttet.
    Ich nahm den Napf, aß und leckte den Boden nach Grubengewohnheit ab, bis er glänzte.
    Am dritten Tag ging die Tür auf, und der pockennarbige Kämpfer, mit einem Fellmantel über dem Halbpelz, trat über die Schwelle des Karzers.
    »Na, hast du dich ausgeruht? Wir fahren.«
    Ich stand auf der Vortreppe. Ich hatte

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