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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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wirklicher Name) beeindruckte sogar mich, den grenzenlos Müden.
    Für ein Pseudonym übertrieben, dachte ich, doch ich mußte schon eintreten, das riesige Zimmer mit einem die ganze Wand einnehmenden Stalinporträt durchqueren, vor dem gewaltigen Schreibtisch stehenbleiben und das blasse rötliche Gesicht eines Mannes betrachten, der sein ganzes Leben im Zimmer, in Zimmern wie diesem, verbracht hat.
    Romanow verbeugte sich ehrerbietig vor dem Schreibtisch.
    Die trüben blauen Augen des Chefbevollmächtigten Genossen Smertin verweilten auf mir. Sie verweilten nur sehr kurz: er suchte etwas auf dem Tisch, blätterte irgendwelche Papiere durch. Romanows dienstfertige Finger fanden, was gefunden werden mußte.
    »Name?«, fragte Smertin und schaute in die Papiere. »Vor- und Vatersname? Artikel? Haftdauer?«
    Ich antwortete.
    »Jurist?«
    »Ja.«
    Das blasse Gesicht sah vom Schreibtisch auf.
    »Hast du Beschwerden geschrieben?«
    »Ja.«
    Smertin schnaufte.
    »Gegen Brot?«
    »Gegen Brot, und auch einfach so.«
    »Gut. Abführen.«
    Ich machte keinen einzigen Versuch, etwas zu klären, zu fragen. Wozu? Ich war ja nicht in der Kälte, nicht in der nächtlichen Goldmine. Sollen sie klären, was sie wollen.
    Der Gehilfe des Diensthabenden kam mit einem Zettel, und ich wurde durch die nächtliche Siedlung bis an ihren Rand geführt, wo unter dem Schutz von vier Wachtürmen hinter dreifachem Stacheldrahtzaun der Isolator stand, das Lagergefängnis.
    Im Gefängnis gab es große Zellen, und es gab auch Einzelzellen. In eine dieser Einzelzellen wurde ich hineingestoßen. Ich erzählte von mir, ohne von den Nachbarn eine Antwort zu erwarten, ohne sie etwas zu fragen. So gehört es sich, damit sie nicht denken, daß ich eingeschleust bin.
    Der Morgen kam, ein weiterer Wintermorgen an der Kolyma, ohne Licht, ohne Sonne, anfangs von der Nacht nicht zu unterscheiden. Ein Schlag an ein Gleisstück, sie brachten einen Eimer dampfendes Kochendwasser. Der Begleitposten holte mich ab, und ich verabschiedete mich von den Gefährten. Ich wußte nichts von ihnen.
    Ich wurde wieder zum selben Haus gebracht. Das Haus kam mir kleiner vor als in der Nacht. Vor die hellen Augen Smertins wurde ich schon nicht mehr vorgelassen.
    Der Diensthabende befahl mir, mich zu setzen und zu warten, und ich setzte mich und wartete, bis ich eine bekannte Stimme hörte:
    »Das ist gut! Das ist hervorragend! Gleich fahren Sie!«
    Auf fremdem Territorium siezte mich Romanow.
    Die Gedanken bewegten sich faul im Hirn — beinahe körperlich zu fühlen. Ich muß an etwas Neues denken, etwas, woran ich nicht gewöhnt bin, das ich nicht kenne. Dieses Neue hat nichts mit dem Bergwerk zu tun. Wenn wir zu unserem Bergwerk »Partisan« zurückkehren würden, hätte Romanow gesagt: »Gleich fahren wir.« Man fährt mich also an einen noch anderen Ort. Hol doch alles der Teufel!
    Romanow hüpfte beinahe die Treppe hinab. Es war, als würde er sich gleich aufs Geländer setzen und runterrutschen wie ein kleiner Junge. In den Händen hielt er fast einen ganzen Laib Brot.
    »Hier, das ist für Sie, auf den Weg. Und das auch noch.« Er verschwand nach oben und kam mit zwei Heringen zurück. »In Ordnung, ja? Das war’s, scheint’s... Ach, das Wichtigste habe ich ja vergessen, wenn man selbst nicht raucht...«
    Romanow stieg hoch und kam mit einer Zeitung zurück. Auf die Zeitung war Machorka geschüttet. Drei Schachteln etwa, stellte ich mit erfahrenem Auge fest. Ein Achtel enthält acht Streichholzschachteln Machorka. Das ist ein Lagerraummaß.
    »Das ist für Sie, auf den Weg. Marschverpflegung sozusagen.«
    Ich nickte.
    »Den Begleitposten haben Sie bestellt?«
    »Ja«, sagte der Diensthabende.
    »Schicken Sie den Postenführer rauf.«
    Und Romanow verschwand auf der Treppe.
    Zwei Begleitposten kamen — der eine älter, pockennarbig, eine kaukasische
papacha
auf dem Kopf, der andere jung, etwa zwanzig, rotwangig, mit einem Rotarmistenhelm.
    »Der hier«, sagte der Diensthabende und zeigte auf mich.
    Beide, der Junge und der Pockennarbige, betrachteten mich sehr aufmerksam von Kopf bis Fuß.
    »Und wo ist der Chef?«, fragte der Pockennarbige.
    »Oben. Und der Umschlag auch.«
    Der Pockennarbige ging nach oben und kam kurz darauf mit Romanow zurück.
    Sie sprachen leise, und der Pockennarbige zeigte auf mich.
    »Gut«, sagte Romanow schließlich, »wir geben euch ein Schreiben mit.«
    Wir gingen auf die Straße hinaus. An der Vortreppe, dort, wo in der Nacht der kleine

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