Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Schlacke geschaufelt — die Humanabfälle der Goldminen. Drei Wege führten aus dem Tagebau, in dem Sand gewonnen und Torf abgebaut wird: »an den Berg« – das heißt in die anonymen Massengräber –, ins Krankenhaus oder in die Brigade Schmeljow — die drei Wege eines
dochodjaga
. Die Brigade arbeitete dort, wo auch die anderen arbeiteten, nur wurden ihr weniger wichtige Dinge übertragen. Die Losungen »Planerfüllung ist Gesetz« und »Den Plan in die Köpfe der Hauer tragen« waren keine bloßen Worte. Man interpretierte sie so: erfüllst du nicht die Norm — hast du das Gesetz verletzt, den Staat betrogen und mußt mit einer Haftstrafe bezahlen, manchmal auch mit dem eigenen Leben.
Auch die Verpflegung der Schmeljow-Leute war schlechter, knapper. Doch ich erinnerte mich gut an die hiesige Redensart: »Im Lager tötet die große Ration, nicht die kleine.« Ich riß mich nicht um die große Ration der wichtigen Abbau-Brigaden.
Ich war erst kürzlich zu Schmeljow überstellt, vor drei Wochen, und ich kannte sein Gesicht nicht — es war im tiefsten Winter, der Kopf des Brigadiers war kompliziert in irgendeinen zerrissenen Schal gemummt, und abends in der Baracke war es dunkel, die Benzinkolymka erleuchtete kaum die Tür. Ich erinnere mich nicht an das Gesicht des Brigadiers. Nur an die Stimme, eine heisere, erkältete Stimme.
Wir arbeiteten im Dezember in der Nachtschicht, und jede Nacht erschien als Folter — fünfzig Grad sind kein Witz. Und trotzdem war es nachts besser, ruhiger, weniger Chefs vor Ort, weniger Flüche und Schläge.
Die Brigade trat zum Abmarsch an. Im Winter wurde in der Baracke angetreten, und die Erinnerung an diese letzten Minuten vor dem Marsch in die eisige Nacht zur Zwölfstundenschicht ist mir noch heute eine Qual. Hier, in diesem unschlüssigen Gedränge an der halbgeöffneten Tür, durch die Eisdampf hereinkriecht, zeigt sich der menschliche Charakter. Einer unterdrückte das Zittern und schritt geradewegs in die Dunkelheit, ein anderer zog noch eilig an einer Machorka-Kippe unbekannter Herkunft, die weder den Geruch noch eine Spur von Machorka enthielt; ein dritter schützte sein Gesicht vor dem kalten Wind; ein vierter stand am Ofen und hielt die Handschuhe darüber, um die Wärme darin aufzufangen.
Die letzten stieß der Barackendienst aus der Baracke. So wurde es überall, in jeder Brigade, mit den Allerschwächsten gemacht.
Mich stieß man in dieser Brigade noch nicht hinaus. Hier gab es noch Schwächere als mich, und das verschaffte mir eine gewisse Beruhigung, eine gewisse unverhoffte Freude. Hier war ich vorläufig noch ein Mensch. Die Stöße und Fausthiebe des Barackendienstes waren in jener »goldenen« Brigade geblieben, von der man mich zu Schmeljow versetzt hatte.
Die Brigade stand in der Baracke an der Tür, marschbereit. Schmeljow kam zu mir.
»Du bleibst zu Hause«, krächzte er.
»Bin ich in die Frühschicht versetzt?«, sagte ich argwöhnisch.
Von einer Schicht in die andere wurde man immer gegen den Uhrzeigersinn versetzt, damit kein Arbeitstag verlorengeht und der Häftling nicht ein paar Stunden Erholung zusätzlich bekommt. Diesen Mechanismus kannte ich.
»Nein, Romanow bestellt dich zu sich.«
»Romanow? Wer ist Romanow?«
»Da schau, der Dreckskerl, kennt Romanow nicht«, mischte sich der Barackendienst ein.
»Der Bevollmächtigte , kapiert? Er wohnt kurz vor dem Kontor. Du kommst um acht Uhr.«
»Um acht Uhr!«
Ein Gefühl größter Erleichterung ergriff mich. Wenn der Bevollmächtigte mich bis zwölf festhält, bis zum nächtlichen Mittagessen und darüber hinaus, habe ich das Recht, heute gar nicht zur Arbeit zu gehen. Sofort spürte der Körper die Müdigkeit. Doch das war eine freudige Müdigkeit, die Muskeln begannen zu schmerzen.
Ich löste meinen Gurt, knöpfte die Steppjacke auf und setzte mich an den Ofen. Gleich wurde es warm, und die Läuse regten sich unter der Feldbluse. Mit den abgekauten Fingernägeln kratzte ich mir Hals und Brust. Und schlummerte ein.
»Los, los«, der Barackendienst rüttelte meine Schulter. »Geh, und bring was zu rauchen mit, nicht vergessen.«
Ich klopfte an die Tür des Hauses, wo der Bevollmächtigte wohnte. Riegel und Schlösser klapperten, eine Menge Riegel und Schlösser, und jemand Unbekanntes schrie hinter der Tür:
»Wer bist du?«
»Häftling Andrejew, auf Vorladung.«
Rasselnde Riegel, klirrende Schlösser — und alles war still.
Die Kälte kroch unter die Steppjacke, die Füße
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