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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Andrejew nicht überleben kann. Die frühere Gesundheit ist spurlos verloren, für immer zerbrochen. Für immer? Als man Andrejew in diese Stadt brachte, dachte er, er habe noch zwei, drei Wochen. Damit aber die frühere Kraft zurückkehren kann, braucht er vollkommene Erholung, über viele Monate, an der frischen Luft, unter Kurortbedingungen, mit Milch und mit Schokolade. Und weil vollkommen klar ist, daß Andrejew einen solchen Kurort nicht zu sehen bekommt, wird er sterben müssen. Was wiederum nicht schrecklich ist. Viele Kameraden sind gestorben. Aber etwas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt. Das hat Andrejew begriffen, und nicht nur begriffen, sondern deutlich gespürt eben hier, im städtischen Durchgangslager, während der Zeit der Typhusquarantäne.
    Die Kratzwunden auf der Haut waren viel schneller verheilt als Andrejews andere Wunden. Allmählich verschwand der Schildkrötenpanzer, in den sich die menschliche Haut in der Grube verwandelt hatte; die hellrosa Spitzen der erfrorenen Finger wurden dunkler: das zarte Häutchen, das sie bedeckt hatte, nachdem die Erfrierungsblase geplatzt war, war etwas dicker geworden. Und sogar – das Allerwichtigste – die linke Hand hatte sich aufgebogen. In den anderthalb Jahren Arbeit in der Grube hatten sich beide Hände auf die Dicke des Schaufel- oder Hackengriffs gekrümmt und waren, so schien es Andrejew, für immer erstarrt. Beim Essen hielt er den Löffelgriff, wie auch all seine Kameraden, mit den Fingerspitzen, wie eine Prise, und hatte vergessen, daß man einen Löffel auch anders halten kann. Die Hand, die lebendige, glich einem Prothesenhaken. Sie vollführte nur die Bewegungen einer Prothese. Außerdem hätte sich Andrejew damit bekreuzigen können, wenn er zu Gott gebetet hätte. Aber nichts außer Erbitterung war in seiner Seele. Die Wunden seiner Seele wurden nicht so leicht geheilt. Sie wurden niemals geheilt.
    Aber die Hand hat Andrejew doch aufgebogen. Einmal im Dampfbad bogen sich die Finger der linken Hand gerade. Das wunderte Andrejew. Die Reihe wird auch noch an die rechte kommen, die noch immer gekrümmte. Und in den Nächten berührte Andrejew ganz leise die Rechte, versuchte die Finger aufzubiegen, und ihm schien, gleich, gleich würden sie aufgehen. Er hatte die Nägel sehr sorgfältig abgebissen und kaute jetzt Stückchen um Stückchen die schmutzige, dicke, ein wenig weich gewordene Haut. Diese hygienische Operation war eine der wenigen Zerstreuungen Andrejews, wenn er nicht aß und nicht schlief.
    Die blutigen Risse an den Fußsohlen waren schon nicht mehr so schmerzhaft wie früher. Die Skorbutgeschwüre an den Beinen waren noch nicht verheilt und mußten verbunden werden, doch an Wunden blieb immer weniger — an ihre Stelle traten blauschwarze Flecken, die aussahen wie ein Brandmal, wie der Stempel des Sklavenbesitzers, des Negerhändlers. Nur die großen Zehen an beiden Füßen heilten nicht — dort hatte die Erfrierung auch das Knochenmark erfaßt, von dort floß ständig ein wenig Eiter. Natürlich war es viel weniger Eiter als früher, in der Grube, wo sich Eiter und Blut so in den Gummi- tschuni , dem Sommerschuhwerk der Häftlinge, sammelten, daß der Fuß bei jedem Schritt gluckste wie in einer Pfütze.
    Viele Jahre würden noch vergehen, bis Andrejews Zehen heilen würden. Viele Jahre nach der Heilung werden sie bei der geringsten Kälte mit dumpfem Schmerz an die nördliche Grube erinnern. Doch Andrejew dachte nicht an die Zukunft. Er, der in der Grube gelernt hatte, das Leben nicht weiter als einen Tag im voraus zu planen, bemühte sich, um das Nahe zu kämpfen, wie es jeder Mensch in Todesnähe tut. Heute wollte er eines — daß die Typhusquarantäne ewig dauert. Doch das konnte nicht sein, und es kam der Tag, an dem die Quarantäne endete.
    An diesem Morgen wurden alle Bewohner der Sektion auf den Hof getrieben. Über Stunden drängten sich die Häftlinge wortlos hinter dem Drahtzaun und froren. Der Arbeitsanweiser stand auf einem Faß und rief mit heiserer, verbissener Stimme die Nachnamen aus. Die Aufgerufenen verschwanden durch die Pforte — für immer. Auf der Chaussee brummten die Lastwagen, sie brummten so laut in der frostigen Morgenluft, daß sie den Arbeitsanweiser störten.
    »Daß sie mich bloß nicht aufrufen, daß sie mich bloß nicht aufrufen«, flehte Andrejew das Schicksal mit

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