Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
starb (das Leben ist voller segensreicher Zufälle), bewies Ognjew, Andrejews Nachbar, eine wunderbare Energie und Zähigkeit. Zwei Tage lang aß er kein Brot, dann tauschte er für das Brot einen großen Fiberkoffer ein.
»Bei Baron Mandel, Andrejew!«
Baron Mandel! Ein Nachkomme Puschkins! Dort hinten, dort. Der Baron – lang, schmalschultrig, mit winzigem Kahlschädel – war in der Ferne zu sehen. Doch seine Bekanntschaft machte Andrejew nicht.
Ognjew besaß ein Covercoat-Jackett noch aus der Freiheit, in Quarantäne war Ognjew erst seit einigen Monaten.
Ognjew überreichte dem Arbeitsanweiser Jackett und Fiberkoffer und erhielt das Amt des gestorbenen Latrinenfuhrmanns. Zwei Wochen später wurde Ognjew von zwei Ganoven im Dunkeln gewürgt – Gott sei Dank nicht zu Tode –, und sie nahmen ihm ungefähr dreitausend Rubel Bargeld ab.
Zur Blütezeit seiner kommerziellen Karriere kam Ognjew Andrejew fast nicht vor Augen. Verprügelt und geschunden und an seinen alten Platz zurückgekehrt, schüttete er Andrejew in der Nacht sein Herz aus.
Andrejew hätte ihm einiges erzählen können, was er im Bergwerk gesehen hatte, doch Ognjew bereute kein bißchen und beklagte sich nicht.
»Heute kriegen sie mich, morgen kriege ich sie. Ich werde sie... schlagen... In Stoß, in Terz, in Bura werde ich sie schlagen. Ich hol mir alles zurück!«
Ognjew hatte Andrejew weder mit Brot noch mit Geld geholfen, doch das war in solchen Fällen auch nicht üblich — von Standpunkt der Lagerethik war alles in Ordnung.
An einem der Tage wunderte sich Andrejew, daß er noch lebt. Auf die Pritsche zu steigen war so schwer, aber er schaffte es doch. Das Allerwichtigste — er arbeitet nicht, bleibt liegen, und selbst fünfhundert Gramm Roggenbrot, drei Löffel Grütze und eine dünne Suppe am Tag können einen Menschen wiederbeleben. Wenn er nur nicht arbeitet.
Eben hier begriff er, daß er keine Angst hat und am Leben nicht hängt. Er begriff auch, daß er durch eine große Prüfung gegangen und am Leben geblieben ist. Daß es ihm bestimmt ist, die schreckliche Grubenerfahrung zum eigenen Nutzen zu verwenden. Er begriff, daß, wie erbärmlich die Möglichkeiten der Wahl, des freien Willens des Häftlings auch sein mögen, sie doch vorhanden sind; diese Möglichkeiten sind Realität, sie können einem unter Umständen das Leben retten. Und Andrejew war bereit zu dieser großen Schlacht, wo er mit animalischer Schläue gegen die Bestie antreten muß. Man hat ihn betrogen. Auch er wird betrügen. Er wird nicht sterben, hat nicht vor zu sterben.
Er wird die Wünsche seines Körpers erfüllen, das, was ihm der Körper in der Goldgrube erzählt hat. Die Schlacht in der Grube hat er verloren, doch das ist nicht die letzte Schlacht. Er ist die Schlacke, die die Goldgrube auswirft. Und er wird diese Schlacke sein. Er hatte gesehen, daß der violette Stempel, von Lidija Iwanownas Hand auf irgendein Papier gesetzt, ein Stempel aus drei Buchstaben war: LFT, leichte physische Tätigkeit. Andrejew wußte, daß man in den Gruben auf diese Zeichen nicht achtet, aber hier, im Zentrum, hatte er vor, jeden nur möglichen Nutzen daraus zu ziehen.
Doch die Möglichkeiten waren gering. Man konnte dem Arbeitsanweiser sagen: »Hier liege ich, Andrejew, und will nirgendwo hinfahren. Wenn man mich in die Grube schickt, werde ich auf dem ersten Paß, sobald der Laster bremst, in die Tiefe springen, soll mich der Begleitposten erschießen — ich fahre sowieso nicht mehr ins Gold.«
Die Möglichkeiten waren gering. Doch hier wird er klüger sein, wird mehr dem Körper vertrauen. Und der Körper wird ihn nicht betrügen. Die Familie hat ihn betrogen, das Land hat ihn betrogen. Liebe, Energie, Begabung — alles zertrampelt, zerschlagen. Alle Rechtfertigungen, die das Hirn sucht, sind verkehrt, sind falsch, und Andrejew wußte das. Nur der von der Grube geweckte animalische Instinkt kann ihm einen Ausweg zeigen und zeigt ihn schon.
Eben hier, auf dieser zyklopischen Pritsche, verstand Andrejew, daß er etwas wert ist, daß er sich selbst achten kann. Hier ist er, er lebt noch und hat niemanden verraten oder verkauft, weder im Untersuchungsverfahren noch im Lager. Es ist ihm gelungen, viel Wahres auszusprechen, es ist ihm gelungen, die Angst in sich niederzukämpfen. Nicht, daß er sich vor gar nichts fürchtete, nein, die moralischen Barrieren sind klarer und exakter gezogen als früher, alles ist einfacher, klarer geworden. Zum Beispiel ist klar, daß
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