Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Essensverteiler das Frühstück ausgegeben, schon Zeit war, das Mittagessen zu verteilen. Und kaum war das Mittagessen verteilt, machten sie sich an die Ausgabe des Abendessens. In der Sektion wurde von morgens bis abends Essen verteilt. Dabei wurde morgens nur das Brot für den ganzen Tag und Tee – warmes abgekochtes Wasser – ausgegeben und jeden zweiten Tag je ein halber Hering, zum Mittagessen nur Suppe, zum Abendessen nur Grütze.
Und trotzdem war die Zeit für die Ausgabe knapp.
Der Arbeitsanweiser führte Andrejew zu den Pritschen und zeigte auf die zweite Etage:
»Hier ist dein Platz!«
Von oben kam Protest, doch der Anweiser fluchte. Andrejew klammerte sich mit beiden Händen an den Pritschenrand und versuchte erfolglos, das rechte Bein auf die Pritsche zu schwingen. Die starke Hand des Arbeitsanweisers stieß ihn in die Höhe, und er plumpste schwer zwischen die nackten Körper. Niemand beachtete ihn. Die »Anmelde- und Einzugs«-Prozedur war abgeschlossen.
Andrejew schlief. Er wachte nur auf, wenn es Essen gab, und dann, nachdem er akkurat und sorgfältig seine Hände abgeleckt hatte, schlief er wieder, aber nicht fest — die Läuse ließen ihn nicht fest schlafen.
Niemand fragte ihn aus, obwohl in diesem ganzen Durchgangslager kaum jemand aus der Tajga kam, allen anderen stand der Weg dorthin bevor. Und das war ihnen klar. Eben darum wollten sie von der unabwendbaren Tajga nichts wissen. Und das war richtig, wie Andrejew fand. Alles, was er gesehen hatte, brauchten sie nicht zu wissen. Man kann nicht entkommen — hier läßt sich keine Vorsorge treffen. Man macht sich nur unnötig Angst, und wozu? Hier waren noch Menschen — Andrejew war ein Vertreter der Toten. Und sein Wissen, das Wissen eines Toten, konnte ihnen, den noch Lebendigen, nichts nützen.
Nach etwa zwei Tagen kam der Badetag. Alle waren die Desinfektionen und Bäder schon leid, und sie gingen ungern, doch Andrejew verlangte es sehr, mit seinen Läusen fertigzuwerden. Zeit hatte er jetzt, soviel er wollte, und er prüfte mehrmals am Tag alle Nähte an seiner Feldbluse. Den endgültigen Erfolg aber konnte erst die Desinfektionskammer bringen. Darum ging er gern, und obwohl man ihm keine Wäsche gab und er die feuchte Bluse auf den nackten Körper ziehen mußte, spürte er die gewohnten Bisse nicht mehr.
Im Badehaus gab es Wasser nach der Norm: eine Schüssel heißes und eine Schüssel kaltes, doch Andrejew täuschte den Badewärter und bekam eine weitere Schüssel.
Ein winziges Stückchen Seife wurde ausgegeben, doch auf dem Boden konnte man Seifenreste sammeln, und Andrejew tat alles, um sich ordentlich zu waschen. Im ganzen letzten Jahr war dies das beste Badehaus gewesen. Mochten auch Blut und Eiter aus den Skorbutgeschwüren an Andrejews Unterschenkeln fließen. Mochten die Leute im Bad vor ihm zurückschaudern. Mochten sie angeekelt von seiner verlausten Kleidung abrücken.
Die Sachen kamen aus der Desinfektionskammer, und Andrejews Nachbar Ognjew bekam statt seiner Schaffellsokken Puppenstrümpfchen ausgehändigt — so sehr war das Leder eingelaufen. Ognjew brach in Tränen aus — die Fellsokken waren seine Rettung im Norden gewesen. Doch Andrejew schaute ihn unfreundlich an. So viele Männer hatte er weinen sehen, aus den unterschiedlichsten Gründen. Es gab die Schlaumeier — die Simulanten, es gab die Nervenkranken, es gab die, die alle Hoffnung verloren hatten, es gab die Wütenden. Es gab vor Kälte Weinende. Vor Hunger hatte Andrejew noch niemanden weinen sehen.
Auf dem Rückweg liefen sie durch die dunkle, schweigsame Stadt. Die Aluminiumpfützen waren gefroren, doch die Luft war frisch, frühlingshaft. Nach diesem Bad schlief Andrejew besonders fest, er »schlief sich satt«, wie sein Nachbar Ognjew sagte, der sein Badehausabenteuer schon vergessen hatte.
Niemand wurde irgendwo hinausgelassen. Aber trotzdem gab es in der Sektion ein einziges Amt, das das Verlassen des Drahtverhaus erlaubte. Zwar ging es hier nicht um ein Verlassen der Lagersiedlung in den Bereich hinter dem äußeren Drahtverhau — drei Stacheldrahtzäune à zehn Schnüre, und dazu die von niedrig gespanntem Draht umgebene Verbotszone. Davon wagte niemand auch nur zu träumen. Hier ging es um das Verlassen des drahtumzäunten Höfchens. Dort waren Kantine, Küche, Lagerhäuser, Krankenhaus — kurz, ein anderes, Andrejew verbotenes Leben. Hinter den Drahtverhau gelangte ein einziger Mensch — der Latrinenfuhrmann. Und als er plötzlich
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