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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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kindlicher Beschwörungsformel an. Nein, er wird kein Glück haben. Selbst wenn sie ihn heute nicht aufrufen, werden sie ihn morgen aufrufen. Er wird wieder in die Goldminen fahren, zu Hunger, Schlägen und Tod. Die abgefrorenen Finger und Zehen begannen zu schmerzen, Ohren und Wangen begannen zu schmerzen. Andrejew trat immer häufiger von einem Fuß auf den anderen, zusammengekrümmt und in die umeinander gelegten Finger blasend, doch die tauben Füße und schmerzenden Hände waren nicht so einfach zu wärmen. Alles nutzlos. Er ist machtlos im Kampf mit dieser gigantischen Maschine, deren Zähne seinen Körper zermalmen.
    »Woronow! Woronow!« Der Arbeitsanweiser schrie sich heiser. »Woronow! Er ist doch hier, der Hund...!« Und der Arbeitsanweiser schmiß erbittert den dünnen gelben Pappdeckel der »Akte« auf das Faß und stellte den Fuß auf die »Akte«.
    Und jetzt begriff Andrejew plötzlich alles. Das war ein Gewitter-Lichtblitz, der den Weg zur Rettung zeigte. Und sofort, erhitzt vor Aufregung, faßte er sich ein Herz und schob sich nach vorn, in die Nähe des Arbeitsanweisers. Der nannte Name auf Name, und einer nach dem andern verließen die Leute den Hof. Doch die Menge war noch groß. Jetzt gleich, gleich...
    »Andrejew!«, schrie der Arbeitsanweiser.
    Andrejew schwieg und betrachtete die rasierten Wangen des Arbeitsanweisers. Nach dem Betrachten der Wangen lenkte er seinen Blick auf die Pappdeckel der »Akten«. Es waren ganz wenige.
    Die letzte Fuhre, dachte Andrejew.
    Der Arbeitsanweiser hielt Andrejews Pappdeckel in der Hand und legte ihn, ohne den Aufruf zu wiederholen, aufs Faß.
    »Sytschew! Melden — Vor- und Vatersname!«
    »Wladimir Iwanowitsch«, antwortete nach allen Regeln irgendein alter Häftling und schob die Menge auseinander.
    »Artikel? Haftdauer? Abtreten!«
    Noch ein paar Männer reagierten auf den Aufruf und gingen. Der Arbeitsanweiser folgte ihnen. Die Häftlinge wurden in die Sektion zurückgeholt.
    Husten, Getrappel und Schreie legten sich, lösten sich auf im vielstimmigen Gemurmel von Hunderten Menschen.
    Andrejew wollte leben. Zwei einfache Ziele setzte er sich und tat alles, um sie zu erreichen. Es war außerordentlich klar, daß er hier so lange wie möglich durchhalten mußte, bis zum letzten Tag. Darauf achten, keine Fehler zu machen, sich in der Hand zu haben... Das Gold ist der Tod. Niemand in diesem Durchgangslager weiß das besser als Andrejew. Er muß die Tajga, die Goldminen um jeden Preis meiden. Wie kann er, der rechtlose Sklave Andrejew, das erreichen? Folgendermaßen: Die Tajga war während der Quarantäne menschenleer geworden — Kälte, Hunger, die schwere vielstündige Arbeit und die Schlaflosigkeit hatten der Tajga die Menschen genommen. Also werden aus der Quarantäne die Fuhren zuallererst in die »Gold«-Verwaltungen gehen, und erst dann, wenn die von den Bergwerken angeforderten Menschen (»Schicken Sie zweihundert Bäume«, wie man in den Diensttelegrammen schreibt) ausgeliefert worden sind — erst dann werden sie nicht mehr in die Tajga, nicht ins Gold schicken. Wohin sonst — das war Andrejew ganz gleich. Bloß nicht ins Gold.
    Über all das sagte Andrejew niemandem ein Wort. Er beriet sich mit keinem, weder mit Ognjew noch mit Parfentjew, dem Kameraden aus der Grube, noch mit einem von diesen tausend Leuten, die gemeinsam mit ihm auf den Pritschen lagen. Denn er wußte: jeder, dem er von seinem Plan erzählt, wird ihn der Leitung verraten — für ein Lob, für einen Machorkastummel, einfach so... Er wußte, was die Bürde eines Geheimnisses, des Stillschweigens ist, und er konnte sie tragen. Nur dann fürchtete er sich nicht. Allein war es leichter, doppelt, dreimal, viermal so leicht, den Zähnen der Maschine zu entkommen. Sein Spiel war sein Spiel — auch das hatte er gründlich gelernt in der Grube.
    Viele Tage meldete sich Andrejew nicht. Sobald die Quarantäne zu Ende war, wurden die Häftlinge zu den Arbeitsstellen getrieben, und am Ausgang mußte man es so drehen, daß man nicht in einen großen Trupp kam — die wurden gewöhnlich zu Erdarbeiten mit Brechstange, Hacke und Schaufel geführt; in den kleinen Trupps von zwei, drei Personen bestand immer die Hoffnung, noch ein Stück Brot oder sogar Zucker zu verdienen — mehr als anderthalb Jahre hatte Andrejew keinen Zucker gesehen. Diese Rechnung war schlicht und vollkommen richtig. All diese Arbeiten waren natürlich ungesetzlich: offiziell waren die Häftlinge in der Etappe, und es

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