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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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salzgetränkte brüchige Feldbluse in die gespreizten, rosigen, gewaschenen Finger mit den geschnittenen Nägeln. Der Mann winkte ab und hielt die Hand auf.
    »Wäsche habe ich nicht«, sagte Andrejew gleichgültig.
    Da nahm der Feldscher Andrejews Feldbluse in beide Hände, krempelte mit geschickter, routinierter Bewegung die Ärmel um und betrachtete sie...
    »Jawohl, Lidija Iwanowna.« Und brüllte Andrejew an: »Wieso bist du so verlaust, hä?«
    Doch die Ärztin Lidija Iwanowna fiel ihm ins Wort.
    »Sind sie denn schuld?«, sagte Lidija Iwanowna leise und vorwurfsvoll, mit Betonung auf dem Wort
sie
, und nahm das Stethoskop vom Tisch.
    Sein Leben lang erinnerte sich Andrejew an diese rotblonde Lidija Iwanowna, tausend Mal hat er sie gesegnet und immer voller Zärtlichkeit und Wärme an sie gedacht. Wofür? Dafür, daß sie in diesem Satz, dem einzigen, den Andrejew von ihr hörte, das Wort
sie
betonte. Für ein gutes Wort im richtigen Moment. Ob diese Segenswünsche sie erreicht haben?
    Die Untersuchung war kurz. Ein Stethoskop war für diese Untersuchung nicht notwendig.
    Lidija Iwanowna hauchte den violetten Stempel an und drückte ihn kräftig, mit beiden Händen auf einen Vordruck. Sie trug ein paar Worte ein, und Andrejew wurde weggeführt.
    Der Begleitposten, der im Flur der Sanitätsabteilung gewartet hatte, brachte Andrejew nicht ins Gefängnis zurück, sondern in die Siedlung, zu einem der großen Lagerhäuser. Der Hof am Lagerhaus war mit den zehn gesetzlich vorgeschriebenen Reihen Stacheldraht umzäunt, samt einer Pforte, an der eine Wache im langen Pelz und mit Gewehr patrouillierte. Sie betraten den Hof und gingen zum Speicher. Grelles elektrisches Licht schlug aus der Türritze. Der Begleitposten öffnete mühsam das riesige, für Kraftwagen, nicht für Menschen gemachte Tor und verschwand im Speicher. Andrejew schlug der Geruch nach schmutzigem Körper, muffiger Kleidung und saurem menschlichen Schweiß entgegen. Dumpfes menschliches Stimmengewirr füllte diesen riesigen Kasten. Die vierstöckigen kompakten Pritschen, aus massiver Lärche gehauen, waren ein ewiges Bauwerk, errichtet für die Ewigkeit wie die Brücken Caesars. Auf den Stellagen des riesigen Speichers lagen mehr als tausend Menschen. Das war eines von zwei Dutzend ehemaligen Lagerhäusern, die bis oben vollgestopft waren mit neuer, lebendiger Ware — im Hafen herrschte Typhusquarantäne, und einen Transport oder, wie es im Gefängnisjargon heißt, eine »Etappe« von dort hatte es schon mehr als einen Monat nicht gegeben. Der Blutkreislauf des Lagers, dessen Erythrozyten lebendige Menschen sind, war gestört. Die Transportfahrzeuge standen still. Die Gruben verlängerten den Arbeitstag der Häftlinge. In der Stadt selbst kam die Brotfabrik mit Brotbacken nicht nach — denn jeder mußte fünfhundert Gramm täglich bekommen, und man versuchte, das Brot in Privatwohnungen zu backen. Die Wut der Leitung wuchs um so mehr, als aus der Tajga nach und nach die Häftlingsschlacke, die die Gruben ausspuckten, in der Stadt eintraf.
    In der »Sektion«, so die modische Bezeichnung für jenes Lagerhaus, wohin man Andrejew gebracht hatte, waren mehr als tausend Personen. Doch war diese Menge nicht gleich zu bemerken. Die Menschen lagen auf den oberen Pritschen nackt wegen der Hitze, auf den unteren Pritschen und unter den Pritschen in Wattejacken, Westen und Mützen. Die meisten lagen auf dem Rücken oder bäuchlings (niemand kann erklären, warum Häftlinge fast niemals auf der Seite schlafen), und ihre Körper wirkten auf den massiven Pritschen wie Höcker, wie Holzbuckel, wie verzogene Bohlen.
    Die Menschen scharten sich in dichten Gruppen neben oder um einen »Romanisten« oder um einen Zwischenfall — und zu Zwischenfällen kam es notwendigerweise ständig bei einer solchen Unmenge von Leuten. Die Leute lagen hier schon mehr als einen Monat, sie gingen nicht zur Arbeit — nur ins Badehaus gingen sie zum Desinfizieren ihrer Sachen. Zwanzigtausend verlorene Arbeitstage pro Tag, hundertsechzigtausend Arbeitsstunden, vielleicht auch dreihundertzwanzigtausend Stunden — die Arbeitstage fallen unterschiedlich aus. Oder zwanzigtausend gerettete Lebenstage.
    Zwanzigtausend Lebenstage. Ziffern lassen sich unterschiedlich beurteilen — die Statistik ist eine tückische Wissenschaft.
    Wenn Essen verteilt wurde, waren alle an ihrem Platz (das Essen wurde in Zehnerportionen verteilt). Es waren so viele Menschen, daß, kaum hatten die

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