Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Knechten und Lakaien — den Hoferzählern, denn die Ganoven halten ein Interesse an »Rómans« für guten Ton: den Hoffriseur mit Parfumflacon gibt es sogar unter diesen Bedingungen, und dazu eine Menge von Dienern, zu allem bereit, wenn man ihnen nur eine Brotkruste abbricht oder ein Süppchen eingießt.
»Still! Senetschka sagt etwas. Still, Senetschka legt sich schlafen...« Das bekannte Bild von der Goldgrube.
Plötzlich entdeckte Andrejew unter der Menge der Schnorrer, dem ewigen Gaunergefolge, ein bekanntes Gesicht, bekannte Züge, hörte eine bekannte Stimme. Kein Zweifel, das war Kapitän Schneider, Andrejews Kamerad aus dem Butyrka-Gefängnis.
Kapitän Schneider war ein deutscher Kommunist, Funktionär der Komintern, der hervorragend Russisch sprach, ein Goethekenner und gebildeter marxistischer Theoretiker. Andrejew hatte Gespräche mit ihm in Erinnerung behalten, »aufgeladene« Gespräche in langen Gefängnisnächten. Von Natur aus ein lustiger Vogel, hatte der ehemalige Kapitän auf großer Fahrt den Kampfgeist in der Gefängniszelle aufrecht gehalten.
Andrejew traute seinen Augen nicht.
»Schneider!«
»Ja? Was willst du?« Der Kapitän drehte sich um. Der Blick seiner trüben blauen Augen erkannte Andrejew nicht.
»Schneider!«
»Was willst du denn? Leise! Senetschka wacht auf.«
Doch schon hob sich der Rand der Decke, und ein blasses, ungesundes Gesicht schaute ins Licht.
»Ach, Käpt’n«, klang schmachtend Senetschkas Tenor. »Ich kann nicht einschlafen, du warst nicht da.«
»Sofort, sofort«, der Kapitän machte sich zu schaffen.
Er kroch auf die Pritsche, schlug die Decke zurück, setzte sich hin, schob die Hand unter die Decke und begann Senetschka die Fersen zu kraulen.
Andrejew ging langsam an seinen Platz. Er mochte nicht mehr leben. Und obwohl das ein kleines und harmloses Ereignis war im Vergleich zu dem, was er gesehen hatte und was er noch sehen sollte, behielt er Kapitän Schneider für immer im Gedächtnis.
Und es blieben immer weniger Leute. Das Durchgangslager leerte sich. Einmal begegnete Andrejew dem Arbeitsanweiser von Angesicht zu Angesicht.
»Wie ist dein Name?«
Aber Andrejew hatte sich schon lange auf so etwas vorbereitet.
»Gurow«, sagte er demütig.
»Warte!«
Der Arbeitsanweiser blätterte das Zigarettenpapier der Listen durch.
»Nein, nichts.«
»Kann ich gehen?«
»Geh, du Rindvieh«, brüllte der Arbeitsanweiser.
Einmal kam er zum Aufräumen und Geschirrspülen in die Kantine der Etappe von Entlassenen, den Leuten, die ihr Strafmaß abgesessen haben und abreisen. Sein Partner war ein ausgemergelter Docht, ein
dochodjaga
unbestimmten Alters, soeben aus dem örtlichen Gefängnis entlassen. Das war der erste Arbeitsausgang des
dochodjaga
. Er fragte dauernd — was sie tun werden, ob sie etwas zu essen bekommen und ob man um etwas Eßbares wenigstens kurz vor der Arbeit bitten kann. Der
dochodjaga
erzählte, er sei Professor für Neuropathologie, und an seinen Namen erinnerte sich Andrejew.
Andrejew wußte aus Erfahrung, daß die Lagerköche, und nicht nur die Köche, die Iwan Iwanowitschs, wie sie die Intelligenz verächtlich nannten, nicht mochten. Er riet dem Professor, nichts im voraus zu erbitten, und dachte traurig, daß die Hauptarbeit beim Spülen und Putzen ihm, Andrejew, zufallen würde — der Professor war zu schwach. Das war richtig, und übelnehmen konnte er es nicht — wie oft war Andrejew im Bergwerk seinen damaligen Kameraden ein schlechter, schwacher Partner gewesen, und nie hatte jemand ein Wort gesagt. Wo waren sie alle? Wo waren Schejnin, Rjutin, Chwostow? Alle waren tot, und er, Andrejew, war zum Leben zurückgekehrt. Übrigens, noch war er nicht zurückgekehrt und wird wohl kaum zurückkehren. Doch er wird um sein Leben kämpfen.
Andrejews Annahmen erwiesen sich als richtig — der Professor war wirklich ein schwacher, wenn auch geschäftiger Helfer.
Die Arbeit war beendet, und der Koch setzte sie in die Küche und stellte ein riesiges Fäßchen mit dicker Fischsuppe und einen großen Eisenteller Grütze vor sie hin. Der Professor klatschte vor Freude in die Hände, aber Andrejew, der in der Grube gesehen hatte, wie ein einziger Mensch zwanzig Essensportionen aus drei Gängen plus Brot aß, schielte mißbilligend auf das vorgesetzte Essen.
»Und kein Brot?«, fragte Andrejew düster.
»Wieso kein Brot, ihr bekommt noch etwas.« Und der Koch holte zwei Scheiben Brot aus dem Schrank.
Die Mahlzeit war schnell beendet. Bei
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