Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
fanden sich viele, die die kostenlose Arbeit gern nutzten. Wer zu Erdarbeiten kam, ging in der Absicht dorthin, irgendwo Tabak oder Brot zu erbetteln. Das gelang, selbst von Passanten. Andrejew ging ins Gemüsedepot, wo er Rüben und Möhren aß, soviel er wollte, und brachte einige rohe Kartoffeln »nach Hause«, die er in der Ofenasche röstete und halbroh herauszog und aß — das hiesige Leben erforderte es, daß alle Essensverrichtungen schnell passieren — zu viele Hungernde ringsum.
Es begannen beinahe sinnvolle, von Tätigkeit erfüllte Tage. Morgens mußte man täglich etwa zwei Stunden lang im Frost stehen. Und der Arbeitsanweiser schrie: »He, Sie, melden, Vor- und Vatersname.« Und wenn das tägliche Opfer an den Moloch beendet war, rannten alle trappelnd in die Baracke — von dort wurden sie zur Arbeit geführt. Andrejew war in der Brotfabrik, schleppte Müll im Frauendurchgangslager, wischte den Boden in der Wachabteilung, wo er im halbdunklen Eßsaal von den verbliebenen Tellern die klebrigen und leckeren Fleischreste von den Kommandeurstischen sammelte. Nach der Arbeit wurden große Schüsseln, voll mit süßem Mehlbrei, und Berge von Brot in die Küche hinausgetragen, und alle setzten sich rundherum, aßen und stopften sich die Taschen mit Brot voll.
Nur einmal hatte sich Andrejew verrechnet. Je kleiner die Gruppe — um so besser: das war seine Maxime. Und am allerbesten — allein. Doch einer wurde selten irgendwohin geholt. Einmal sagte der Arbeitsanweiser, der sich Andrejews Gesicht schon gemerkt hatte (er kannte ihn als Murawjow):
»Ich habe eine Arbeit für dich gefunden, an die wirst du dich ewig erinnern. Holz sägen bei der obersten Leitung. Du gehst mit einem zweiten Mann.«
Fröhlich liefen sie vor dem Begleiter im Kavalleriemantel her. Der rutschte in seinen Stiefeln, stolperte, sprang über Pfützen und holte sie dann im Laufschritt ein, die Mantelschöße in beiden Händen haltend. Bald standen sie vor einem kleinen Haus mit verschlossener Pforte und Stacheldrahtverhau auf dem Zaun. Der Begleiter klopfte. Im Hof begann ein Hund zu bellen. Der Gehilfe des Chefs öffnete ihnen, stumm führte er sie in den Schuppen, schloß sie ein und ließ den riesigen Schäferhund in den Hof. Er brachte einen Eimer Wasser. Und bis die Häftlinge das gesamte Brennholz im Schuppen zersägt und gehackt hatten, hielt sie der Hund eingesperrt. Spät am Abend führte man sie ins Lager. Am folgenden Tag schickte man sie wieder dorthin, doch Andrejew versteckte sich unter der Pritsche und ging an diesem Tag überhaupt nicht zur Arbeit.
Am nächsten Tag kam Andrejew vor der Brotausgabe ein einfacher Gedanke, den er auch sogleich verwirklichte.
Er zog die
burki
von den Füßen und legte sie an den Rand der Pritsche mit den Sohlen nach außen aufeinander — so, als läge er selbst in den Stiefeln auf der Pritsche. Daneben streckte er sich auf dem Bauch aus und ließ den Kopf auf den Ellbogen sinken.
Der Verteiler zählte rasch die nächsten Zehn ab und gab Andrejew zehn Brotportionen. Andrejew behielt zwei Portionen. Doch diese Methode war unzuverlässig, zufällig, und Andrejew suchte wieder Arbeit außerhalb der Baracke...
Dachte er damals an seine Familie? Nein. An die Freiheit? Nein. Sagte er sich damals aus dem Gedächtnis Gedichte auf? Nein. Erinnerte er sich an Vergangenes? Nein. Er lebte nur in gleichgültiger Erbitterung. Eben damals traf er Kapitän Schneider.
Die Ganoven hielten den Platz in Ofennähe besetzt. Die Pritschen waren mit schmutzigen Steppdecken und mit einer Vielzahl von Federkissen verschiedener Größe bedeckt. Die Steppdecke ist der ständige Begleiter des erfolgreichen Diebs, der einzige Gegenstand, den der Dieb durch Gefängnisse und Lager schleppt, er stiehlt sich eine, nimmt sie jemandem weg, wenn er keine hat, und das Kissen — das Kissen ist nicht nur Kopfkissen, sondern auch Spieltisch während der endlosen Kartenschlachten. Diesem Tisch kann man jede beliebige Form geben. Und trotzdem ist er ein Kissen. Ein Kartenspieler verspielt eher seine Hosen als das Kissen.
Auf den Decken und Kissen machten es sich die Anführer bequem, vielmehr jene, die in diesem Moment anscheinend die Anführer waren. Noch höher, auf der dritten Pritsche, wo es dunkel war, lagen weitere Decken und Kissen: dorthin wurden irgendwelche femininen jugendlichen Diebe verschleppt, und auch nicht nur die jungen — Päderast war fast jeder Ganove.
Die Ganoven waren umgeben von einer Menge von
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