Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
lieber stehlen als bitten. Prahlerei und diese Eigenschaft stürzen die Jungen ins Verderben.
40. Frauen haben in meinem Leben keine große Rolle gespielt — das Lager ist der Grund.
41. Daß Menschenkenntnis mir nicht hilft, denn mein Verhalten gegenüber irgendeinem Schurken kann ich nicht ändern.
42. Die letzten in der Reihe, die von allen gehaßt werden – den Begleitposten wie den Kameraden –, die Zurückbleibenden, die Kranken, die Schwachen, alle, die im Frost nicht laufen können.
43. Ich habe verstanden, was Macht bedeutet und was ein Mann mit Gewehr.
44. Daß die Maßstäbe verschoben sind und dies das Hervorstechendste am Lager ist.
45. Daß aus dem Zustand des Häftlings in den Zustand des Freien zu wechseln sehr schwer ist, fast unmöglich ohne lange Ablösungsphase.
46. Daß der Schriftsteller ein Ausländer sein muß, in den Fragen, über die er schreibt — wenn er das Material gut kennt, wird er so schreiben, daß ihn niemand versteht.
‹1961›
Abb. Warlam Schalamow, wahrscheinlich 1954.
Franziska Thun-Hohenstein Warlam Schalamows radikale Prosa
»Die Zeugen verstummen, die Literatur, die Zeugnis gibt, verschwindet. Der einzige Zweifel, die einzige Frage, auf die wir noch keine Antwort gefunden haben, ist folgende: Wird es eine Literatur der Vernichtungslager geben, die über die Zeugnis- oder Erinnerungsliteratur hinausgeht?« Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún formulierte diese Frage 2005 und gab zugleich seiner Hoffnung Ausdruck, daß die Erfahrung des GULag in zehn Jahren »in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert« worden sei und neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die »Erzählungen aus Kolyma« von Warlam Schalamow gerückt seien. Jorge Semprún hatte das ästhetische Potential der lakonischen Prosa des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow bereits 1969 entdeckt, als er die ersten, in westliche Sprachen übersetzten Erzählungen las. »Ich hatte den Eindruck«, schrieb er später, »daß mein Blut zurückgeflossen wäre, daß ich wie ein Phantom in dem Gedächtnis des anderen schwämme. Oder daß Schalamow wie ein Phantom in meinem Gedächtnis schwämme. Jedenfalls war es dasselbe Doppelgedächtnis.«
Semprúns Stichwort vom »Doppelgedächtnis« verweist auf eine gemeinsame Erfahrung: Beide hatten am eigenen Leibe erleben müssen, was es bedeutete, einem der europäischen Terrorsysteme des 20. Jahrhunderts ausgeliefert gewesen zu sein. Beide hatten den Tod im Lager gewissermaßen »durchlebt« (Semprún) — der eine als politischer Häftling und Jude in einem deutschen Konzentrationslager, der andere in den »Besserungsarbeitslagern« des stalinschen GULag. Und beide, den spanischen wie den russischen Autor, beschäftigte die Frage, wie die Erinnerung an das Erlebte mit literarischen Mitteln wachgehalten werden könne. Ihre Schreibsituation konnte jedoch verschiedener kaum sein: Semprún schrieb vor dem Hintergrund wachsender internationaler Anerkennung, Schalamow in einer poststalinistischen Sowjetunion, in der nach zaghaften Ansätzen unter Chruschtschow ein Sprechen über den GULag weiterhin tabuisiert war. In einer derartigen Kultursituation war jedwede schriftliche wie mündliche Äußerung über die Terror- und Gewaltpraktiken, mit deren Hilfe die Sowjetordnung aufgebaut und aufrechterhalten wurde, ein Wagnis.
Nahezu achtzehn Jahre, davon vierzehn Jahre in der Kolyma-Region im fernöstlichen Sibirien, hatte Warlam Schalamow als Lagerhäftling die zerstörerische Wirkung des GULag auf den Menschen erlebt. Er hatte überlebt und sich zeitlebens mit den ästhetischen Möglichkeiten und Grenzen erinnernden Schreibens über den GULag auseinandergesetzt. Seine poetologische Antwort ist eindeutig: Die neue Prosa sollte einem Dokument ähnlicher sein als der traditionellen erzählenden Prosa, verfaßt von einem Beobachter, einem Zuschauer. Der Schriftsteller, so Schalamow, müsse Teilnehmer am Lebensdrama sein, aber nicht im Gewand eines Schriftstellers. Federführend sei nicht Orpheus, der in die Hölle hinabstieg, sondern Pluto, der der Hölle entsteigt.
Die »Erzählungen aus Kolyma« des Dichters und Schriftstellers Warlam Schalamow zählen zweifellos zu den wichtigsten literarischen Texten über den GULag. Gleichwohl ist Schalamow dem deutschen Leser bislang weniger bekannt als Alexander Solschenizyn oder selbst Jewgenija Ginsburg.
Eine der möglichen Ursachen ist die Publikations- und
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