Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
vor der Tür — es war April. Sie werden Sommerbekleidung ausgeben, und diese, die winterliche verhaßte Grubenkleidung wird er zurückgeben, abwerfen, vergessen. Doch statt der Sommer- bekamen sie Wintersachen. Ein Versehen? Nein — auf der Liste war mit Rotstift angemerkt: »Winterkl.«.
    Ohne etwas zu verstehen, zogen sie an einem Frühlingstag gebrauchte Wattejacken und Westen an und alte, geflickte Filzstiefel. Und, irgendwie über die Pfützen springend, kehrten sie voller Unruhe zurück in das Barackenzimmer, von dem sie ins Lagerhaus gekommen waren.
    Alle waren überaus beunruhigt, und alle schwiegen, nur Frisorger brabbelte und brabbelte etwas auf deutsch.
    »Der betet, du lieber Himmel...«, flüsterte Filippowskij Andrejew zu.
    »Tja, kennt hier jemand irgendwas?«, fragte Andrejew.
    Der grauhaarige Ofensetzer, der aussah wie ein Professor, zählte alle nahegelegenen Lageraußenstellen auf: der Hafen, Kilometer vier, Kilometer siebzehn, dreiundzwanzig, siebenundvierzig...
    Dann begannen die Abschnitte der Straßenverwaltungen — kaum bessere Orte als die Goldgruben.
    »Abtreten! Marsch zum Tor!«
    Alle traten ab und gingen zum Tor des Durchgangslagers. Vor dem Tor stand ein großer Lastwagen, mit grünem Segeltuch bedeckt.
    »Begleitposten, übernehmen!«
    Der Begleitposten machte einen Zählappell. Andrejew spürte, wie seine Füße, sein Rücken kalt wurden...
    »Einsteigen!«
    Der Begleitposten schlug den Rand der großen Zeltplane zurück, die den Lastwagenkasten bedeckte — der Kasten war voller Leute, die ordentlich auf ihren Plätzen saßen.
    »Eingestiegen!«
    Alle fünf setzten sich nebeneinander. Alle schwiegen. Der Begleitposten stieg ein, der Motor ratterte los, und das Fahrzeug fuhr die Chaussee entlang auf die Haupttrasse.
    »Zu Kilometer vier fahren sie uns«, sagte der Ofensetzer.
    Die Werstpfähle flogen vorüber. Alle fünf steckten die Köpfe an einem Schlitz in der Zeltplane zusammen und trauten ihren Augen nicht...
    »Siebzehn...«
    »Dreiundzwanzig...«, zählte Filippowskij.
    »Von wegen lokale, die Dreckskerle!«, krächzte der Ofensetzer böse.
    Der Lastwagen folgte schon lange der gewundenen Straße zwischen den Felswänden. Die Chaussee sah aus wie ein Tau, mit dem man das Meer gen Himmel zieht. Und es zogen die Treidlerberge vorbei, die Rücken gebeugt.
    »Siebenundvierzig...«, piepste hoffnungslos der zapplige Esperantist.
    Der Laster schoß vorüber.
    »Wohin fahren wir?«, fragte Andrejew und packte jemanden bei der Schulter.
    »In Atka, Kilometer zweihundertacht, übernachten wir.«
    »Und weiter?«
    »Keine Ahnung... Gib mir was zu rauchen.«
    Der Lastwagen kletterte, schwer keuchend, auf den Paß des Jablonowy-Gebirges.
    1959

Was ich im Lager gesehen und erkannt habe
    1. Die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation. Der Mensch wurde innerhalb von drei Wochen zur Bestie — unter Schwerarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen.
    2. Das wichtigste Mittel zum Zersetzen der Seele ist die Kälte, in den Lagern Mittelasiens hielten die Menschen sicherlich länger durch — dort war es wärmer.
    3. Ich habe erkannt, daß Freundschaft, Kameradschaft niemals unter schwierigen, wirklich schwierigen – lebensbedrohlichen – Verhältnissen entsteht. Freundschaft entsteht unter schwierigen, aber bewältigbaren Verhältnissen (im Krankenhaus, und nicht im Bergwerk).
    4. Ich habe erkannt, daß der Mensch sich am längsten die Erbitterung bewahrt. Das Fleisch an einem hungrigen Menschen reicht nur für Erbitterung — allem anderen gegenüber ist er gleichgültig.
    5. Ich habe den Unterschied erkannt zwischen dem Gefängnis, das den Charakter stärkt, und dem Lager, das die menschliche Seele zersetzt.
    6. Ich habe erkannt, daß Stalins »Siege« errungen wurden, weil er Unschuldige umbrachte — eine Organisation, der Zahl nach zehnmal geringer, aber eine Organisation, hätte Stalin in zwei Tagen hinweggefegt.
    7. Ich habe erkannt, daß der Mensch zum Menschen geworden ist, weil er physisch kräftiger, zäher ist als jedes Tier — kein Pferd hält die Arbeit im Hohen Norden aus.
    8. Ich habe gesehen, daß die einzige Gruppe von Menschen, die sich auch nur ein wenig menschlich benahm trotz Hunger und Verhöhnungen — die Religiösen sind, die Sektenmitglieder, und zwar fast alle, sowie ein großer Teil der Popen.
    9. Am leichtesten, als erste lassen sich die Parteiarbeiter und die Militärs korrumpieren.
    10. Ich habe verstanden, was für ein gewichtiges

Weitere Kostenlose Bücher