Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
»Geht in die Baracke, ich sage euch später, wohin ihr geschickt werdet.«
Andrejew wußte, er hatte die Schlacht um das Leben gewonnen. Es konnte einfach nicht sein, daß die Tajga noch nicht mit Menschen gesättigt war. Wenn es noch Abtransporte geben wird, dann zu nahegelegenen, zu lokalen Außenstellen. Oder in der Stadt selbst — das wäre noch besser. Weit können sie ihn nicht schicken — nicht nur, weil Andrejew »leichte physische Tätigkeit« hat. Andrejew wußte von der Praxis plötzlicher Neueinstufungen. Sie können ihn nicht weit schicken, weil die Anforderungen der Tajga schon erfüllt sind. Und nur nahegelegene Außenstellen, wo das Leben leichter, einfacher, nahrhafter ist, wo kein Gold gewonnen wird, und das heißt, Hoffnung auf Rettung besteht, kommen noch an die Reihe. Das hatte sich Andrejew erlitten durch seine zwei Jahre Arbeit im Bergwerk. Durch seine bestialische Anspannung in diesen Monaten der Quarantäne. Zu vieles hatte er getan. Die Hoffnungen mußten sich um jeden Preis erfüllen.
Nur eine Nacht noch mußte er warten.
Nach dem Frühstück kam der Arbeitsanweiser mit einer Liste in die Baracke gestürzt, einer kleinen Liste, wie Andrejew gleich erleichtert feststellte. Für die Goldgruben gab es Listen mit fünfundzwanzig Personen pro Fuhre, und von ihnen gab es immer mehrere.
Andrejew und Filippowskij wurden nach dieser Liste aufgerufen; es waren noch mehr Menschen auf der Liste — nicht viele, aber mehr als nur zwei oder drei Namen.
Die Aufgerufenen wurden zur bekannten Tür der Registratur geführt. Dort standen drei weitere Leute — ein grauhaariger, ernster, bedächtiger Alter in einem guten Schafshalbpelz und in Filzstiefeln und ein zappliger Mensch in Schafsweste, Hosen und Gummigaloschen mit Fußlappen an den Füßen. Der dritte war ein würdiger Alter, der den Kopf gesenkt hielt. Etwas weiter stand ein Mann in Pekesche und
kubanka
.
»Das sind alle«, sagte der Arbeitsanweiser. »Sind sie geeignet?«
Der Mann in der Pekesche winkte den Alten mit dem Finger heran.
»Wer bist du?«
»Isgibin Jurij Iwanowitsch, Artikel 58. Haftdauer fünfundzwanzig Jahre«, schnurrte der Alte munter herunter.
»Nein, nein«, verdüsterte sich die Pekesche. »Von Beruf bist du wer? Eure Grunddaten finde ich auch ohne euch...«
»Ofensetzer, Bürger Natschalnik.«
»Und was noch?«
»Klempnern kann ich auch.«
»Sehr gut. Du?«
Der Chef sah Filippowskij an.
Der einäugige Riese erzählte, er sei Heizer auf der Lok aus Kamenez-Podolsk.
»Und du?«
Der würdige Alte murmelte unerwartet ein paar Worte auf deutsch.
»Was ist das?«, fragte die Pekesche interessiert.
»Keine Bange«, sagte der Arbeitsanweiser. »Das ist ein Tischler, der gute Tischler Frisorger. Er ist ein bißchen durcheinander. Aber er wird wieder zu sich kommen.«
»Und warum auf deutsch?«
»Er kommt aus der Gegend von Saratow, aus der autonomen Republik...«
»A-a-ha... Und du?« Das war eine Frage an Andrejew.
Er braucht Fachleute, überhaupt Arbeitervolk, dachte Andrejew. Ich werde Lederarbeiter sein.
»Gerber, Bürger Natschalnik.«
»Sehr gut. Und wie alt?«
»Einunddreißig.«
Der Chef schüttelte den Kopf. Doch weil er ein erfahrener Mann war und Tote hat auferstehen sehen, schwieg er und lenkte den Blick auf den fünften.
Der fünfte, der zapplige Mensch erwies sich als nicht mehr und nicht weniger denn als Funktionär der Gesellschaft der Esperantisten .
»Wissen Sie, eigentlich bin ich Agronom, von der Ausbildung Agronom, ich habe sogar Vorträge gehalten, aber mein Verfahren, das habe ich für die Esperantisten.«
»Spionage vielleicht?«, sagte gleichgültig die Pekesche.
»Genau, etwas in der Art«, bestätigte der zapplige Mensch.
»Und?«, fragte der Arbeitsanweiser.
»Ich nehme sie«, sagte der Chef. Bessere findet man sowieso nicht. Die Auswahl ist heute beschränkt.
Alle fünf wurden in eine einzelne Zelle geführt — ein Zimmer in der Baracke. Doch auf der Liste standen noch zwei, drei Namen — das hatte Andrejew sehr genau bemerkt. Der Arbeitsanweiser kam.
»Wohin fahren wir?«
»Zu einer lokalen Außenstelle, wohin sonst«, sagte der Arbeitsanweiser. »Und das wird euer Chef sein. In einer Stunde schicken wir euch los. Drei Monate habt ihr euch hier gefläzt, Freunde, jetzt ist es Zeit, daß ihr euch verabschiedet.«
Nach einer Stunde wurden sie gerufen, nur nicht zum Fahrzeug, sondern in den Lagerraum. Zum Einkleiden offenbar, dachte Andrejew. Denn der Frühling stand
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